Der Standard, 10.11.2015

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EU-Kommission wirft Türkei "Verlangsamung" des Reformtempos vor

Fortschrittsbericht für die Türkei: neben Kritik auch Lob für EU-Beitrittskandidaten

Berlin/Brüssel – Die EU kritisiert massiv Rückschritte bei Demokratie und Menschenrechten in der Türkei. "Das Reformtempo hat sich im vergangenen Jahr verlangsamt", heißt es in dem von EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Dienstag im EU-Parlament präsentierten Fortschrittsbericht. Hahn will dennoch mit der Türkei neue Verhandlungskapitel in den EU-Beitrittsgesprächen angehen.

"Der Bericht unterstreicht den generell negativen Trend in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte", teilte die EU-Kommission mit. "Deutliche Mängel beeinträchtigten die Justiz sowie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Türkei hat eine ernsthafte Verschlechterung ihrer Sicherheitslage erfahren. Der Friedensprozess in der Kurdenfrage kam trotz früherer positiver Entwicklungen zu einem Stillstand. Es ist ganz wichtig, dass die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden. Die neue Regierung nach den Neuwahlen vom 1. November muss diese dringlichen Prioritäten angehen", heißt es in dem Report.

Scharf kritisiert wird auch das Vorgehen der Regierung in Ankara gegen Medien und die Internet-Zensur. "Anhaltende neue Strafverfolgungen gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medien sowie die Aktionen der Behörden zur Einschränkung der Medienfreiheit sind von ernsthafter Besorgnis. Änderungen im Internetgesetz sind ein bedeutender Schritt zurück von europäischen Standards."

Die Unabhängigkeit der Justiz und das Prinzip der Gewaltentrennung sei seit 2014 "unterminiert", heißt es in dem Bericht weiter. Richter und Staatsanwälte würden unter starkem politischen Druck stehen. Die Kampagne der Regierung gegen "Parallelstrukturen" im Staat wird in diesem Zusammenhang gesehen. Die Leistungsbilanz der Türkei im Kampf gegen Korruption "bleibt unzulänglich", heißt es weiter. Der "unangemessene Einfluss der Exekutive in die Ermittlungen und Verfolgung von hochrangigen Korruptionsfällen bleibe weiterhin "eine große Besorgnis".

Neue Verhandlungen

Trotz der Rückschritte will Hahn mit der Türkei neue Verhandlungskapitel angehen. Er sprach von der "Vorbereitung auf eine mögliche Öffnung der (Grundrechts-)Kapitel 23 und 24". Dies wäre "eine ganz wesentliche Maßnahme, um auch die Türkei zu einem Lackmustest zu bewegen", wie sie es mit Grundrechten halte, sagte Hahn. "Beitrittsverhandlungen sind der beste Hebel, um die Dinge zu verändern", sagte Hahn. "Nach den Verhandlungen haben wir bekanntermaßen keinen Hebel."

Hahn verteidigte die laufenden Gespräche der EU mit Ankara über einen Aktionsplan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Wenn es um die Visafreiheit und um die Beitrittsverhandlungen gehe, würden aber klare Regeln gelten. "Es kann keine Speziallösung für ein Land geben", was europäische Standards betreffe. Visabefreiung gehe nicht ohne Monitoring und Maßnahmen vonseiten des betreffenden Staates.

Der EU-Kommissar will in Kürze gemeinsam mit dem Ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, wieder nach Ankara aufbrechen, um nach der Neuwahl vom 1. November mit den türkischen Stellen über den Aktionsplan zur Flüchtlingskrise zu verhandeln. Die Türkei fordert von der EU eine raschere Visafreiheit, einen Fortschritt in den Beitrittsgesprächen sowie Finanzhilfe in Höhe von drei Milliarden Euro.

Serbien stellte Hahn die baldige Eröffnung erster Verhandlungskapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen noch vor Jahresende in Aussicht. Der Kommissar lobte ausdrücklich Serbiens Rolle in der aktuellen Flüchtlingskrise. Bei Mazedonien knüpfte die EU-Kommission ihre langjährige Empfehlung zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen diesmal an eine Umsetzung der politischen Vereinbarungen vom Sommer und an eine Umsetzung der Reformen. Montenegro, das bereits acht Verhandlungskapitel mit der EU eröffnet hat, bescheinigt der Bericht Fortschritte. Gleichwohl müsse das Land seine Institutionen stärken und mehr Ergebnisse bei der Bekämpfung von Korruption und Organisiertem Verbrechen aufweisen.

Bosnien-Herzegowina sei "zurück auf dem Reformkurs", heißt es in dem Bericht. Eine weitere Umsetzung der Reformagenda sei aber notwendig, bevor die EU über einen Beitrittsantrag des Landes befinden könne. Auch Albanien müsse weitere Schlüsselreformen, vor allem in der Justiz durchführen, bevor es Beitrittsverhandlungen mit der EU eröffnen könne. Zum Kosovo heißt es, das im Oktober unterzeichnete Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen mit der EU sei ein "Meilenstein" in den gegenseitigen Beziehungen. (APA, 10.11.2015)