Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/zaghafte-rueckkehr-des-lebens-nach-homs-1.18644480

Konflikt in Syrien

Das Leben kehrt zurück nach Homs

Über 1000 Familien sind nach Homs zurückgekehrt, seit das syrische Regime 2014 die Kontrolle zurückerlangt hat. Der Durchhaltewille der Rückkehrer mischt sich mit Verzweiflung und Kriegsmüdigkeit. Ein Augenschein.

von Monika Bolliger, Homs

In der Altstadt von Homs sind wieder Schulkinder anzutreffen. In einem frisch renovierten Klassenzimmer der christlichen Ghassania-Schule schreibt eine Lehrerin englische Wörter an die Wandtafel. Die Schüler machen eifrig mit. Im Kindergarten derselben Schule formen Kinderhände eifrig Figuren aus Knetmasse. Ein mit Schmetterlingen beklebtes Plakat hängt an der frisch gestrichenen Wand, «Rückkehr in die Ghassania, Schuljahr 2015/16» steht da. Die 1894 gegründete Schule wurde restauriert und ist seit September wieder in Betrieb. Früher besuchten etwa 1000 Kinder die Schule, jetzt werden hier wieder etwa 260 Kinder unterrichtet, so die Direktorin Shadia Khoury.

«Asad für immer»

Zögerlich kehrt das Leben in die zentralsyrische Stadt zurück, in der bittere Kämpfe zwischen Regime und Rebellen tobten. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zählt 1370 Familien, welche in die Altstadt zurückgekommen sind, die noch vor wenigen Monaten eine Geisterstadt war. Vor dem Krieg lebten hier etwa 40 000 Familien. Khoury sagt, sie sei optimistisch. Täglich verbessere sich die Lage. Sie hat eine schlimme Zeit hinter sich – ihr Bruder sass während der Kämpfe von 2011–2014 in einem belagerten Viertel fest. Sein Körpergewicht sei in der Zeit auf die Hälfte gesunken, sagt sie. 2014 gewann das Regime die Kontrolle über die Innenstadt von Homs zurück.

Wir passieren Kontrollposten, gesäumt von Betonblöcken und Fässern, alle in den Farben der syrischen Flagge angestrichen, Bilder von Präsident Asad überall. Sprayereien auf den zerstörten Häusern sind übermalt, die meisten nicht mehr lesbar, eine kann man erraten: «Asad ist ein Mörder» stand da. Jetzt sehen wir Sprayereien wie «Asad für immer» oder einfach nur «Asad». Das Regime ist wieder da. Nur im Stadtviertel al-Waer etwas ausserhalb des Zentrums befindet sich noch eine belagerte Enklave bewaffneter Islamisten. Das IKRK ist besorgt über die Bevölkerung in den belagerten Gebieten, zu der der Zugang extrem schwierig ist. «Sie braucht Hilfe, und die Bedingungen werden schlechter, vor allem jetzt, wenn der Winter kommt», sagt der IKRK-Pressesprecher Pawel Krzysiek.

Nördlich der Stadt sind weitere Enklaven, im Süden hat derweil der IS Gebiet gewonnen. Eben findet ein Begräbnis von Soldaten statt. Ein Konvoi mit Soldaten fährt vorbei, die in die Luft schiessen, die Autos zieren Bilder der getöteten Kameraden. Der IS hat das sunnitische Dorf Mihin übernommen, die Soldaten massakriert, die Zivilbevölkerung verschont. Wie man hört gab es unter den Bewohnern keinen Widerstand und vermutlich sogar Kooperation durch Schläfer. Manchen Syrern ist alles lieber als das Regime. Jetzt stehen die Extremisten jedoch vor dem christlichen Dorf Sadad. Viele Bewohner sind aus dem Dorf geflohen.

Zweckoptimismus

Die Zahlen von Syrern, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind, schwanken ständig. Allein in der Provinz Homs sind 400 000 Personen registriert, die ihr Stadtviertel oder eines der umliegenden Dörfer verlassen mussten. Oft haben sie ihr Haus verloren. In der Stadt scheint die Lage jetzt sicher. Unsere Begleiter vom Informationsministerium sind bemüht zu zeigen, dass die Menschen in Gebieten des Regimes besser versorgt und sicherer sind als in jenen der Rebellen. In Gesprächen mit Leuten drückt immer wieder durch, dass sie müde sind vom Krieg und sich nicht mehr interessieren, ob das Regime oder die Rebellen im Recht sind. Es geht ums Überleben – und dafür sind die Voraussetzungen in den Gebieten des Regimes besser, zumindest für jene, die sich nicht gegen Asad auflehnen. Das Regime trägt allerdings durch Luftangriffe und Blockaden auch selbst dazu bei, dass die Aufständischen keine funktionierende zivile Infrastruktur aufbauen können.

In den zurückeroberten Stadtteilen von Homs, die davor von den Rebellen kontrolliert waren, zeigt sich die Verwüstung deutlich. Wie Skelette säumen die Überreste zerbombter Häuser die Strasse, als wir am Khalidiyeh-Viertel vorbeifahren. Auch Strom- und Wasserleitungen wurden zerstört. Manche Stadtteile sind gänzlich unbewohnbar, laut Schätzungen etwa die Hälfte des Stadtkerns von Homs. Doch wo es möglich ist, sind Bewohner wieder eingezogen und legen einen bewundernswerten Durchhaltewillen an den Tag.

Die Inhaberin eines Unterwäscheladens im christlich-muslimischen Hamidiyeh-Viertel strahlt Zweckoptimismus aus. Muna Jaklis hatte ihr Geschäft 2011 wegen der Kämpfe verloren. Der neue Laden in einem Gebäude, dessen Schäden noch sichtbar sind, sei seit drei Monaten geöffnet, erzählt sie und sprüht vor Energie. Sie habe einen kanadischen Pass, aber sie könne nicht im Ausland leben. Das Geschäft rentiere allerdings nicht. «Es geht besser, aber wir sind müde vom Krieg und verarmt», sagt die Christin, die nichts von Spannungen mit Muslimen wissen will: «Das sind Lügen. Wir haben hier immer friedlich zusammengelebt.» Demonstrativ ruft sie ihren muslimischen Nachbarn ins Geschäft und stellt ihn vor.

In Homs gab es früher als in anderen Orten Berichte von minderheitenfeindlichen Slogans des Aufstandes. Dieser begann mit Protesten gegen die Repression und Korruption des Regimes, nahm aber eine sunnitisch-islamische Identität an, wobei das von der Minderheit der Alawiten und Säkularisten dominierte Regime eine Radikalisierung des Aufstandes gezielt förderte und Ängste der Minderheiten schürte. In Homs skandierten schon 2011 einige Demonstranten «Christen nach Beirut, Alawiten in den Sarg» – auf Arabisch reimt sich der Slogan, den die Minderheiten nicht mehr vergessen werden.

Doch viele Syrer sehen in den Spannungen zwischen Religionsgruppen etwas Externes, sie sprechen von bezahlten Demonstranten, von Einfluss aus dem Ausland, etwa aus den Golfstaaten, wo Unterstützung für islamistische Rebellen herkommt, und betonen, dass die Religionsgruppen in Syrien immer friedlich zusammengelebt hätten. Andere räumen ein, dass sich die Stimmung verändert habe. Schon früher waren interreligiöse Heiraten ein Tabu, schon früher pflegten die Leute zu fragen, aus welchem Viertel man kam, und errieten so die Religionszugehörigkeit. «Früher war das eine belanglose Frage. Doch jetzt ist sie gefährlich geworden», drückt es ein Lehrer aus Damaskus aus.

Misstrauen der Minderheiten

Gegenüber dem Geschäft von Muna Jaklis steht die St.-Marien-Kirche des Heiligen Gürtels, die durch die Kämpfe ebenfalls beschädigt wurde. Jetzt wurde ein Teil restauriert. Antoinette Hassouneh, die sich als Freiwillige in der Kirche engagiert, ist vor einem Jahr zurückgekehrt, nachdem sie sich für zwei Jahre in ein christliches Dorf in der Nähe von Homs geflüchtet hatte. Wie durch ein Wunder überlebten sie und ihre Familie den Einschlag einer Granate, als sie zu Hause Kaffee tranken. «Wir wollen nur in Frieden leben», sagt sie. «Aber die ganze Welt treibt Geschäfte auf Kosten des syrischen Volkes. Wir kommen kaum über die Runden, aber was sollen wir tun? Im Meer ertrinken?» Das Vertrauen in die muslimischen Mitbürger hat sie verloren. Für Optimismus hat sie keine Kraft mehr. «Wir wissen nicht, wann es wieder geschieht», sagt sie mit Tränen in den Augen. «Es ist nicht vorbei.»