Neues Deutschland, 11.11.2015

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Von Ismail Küpeli

Suche nach einer Antwort auf Erdogans Kriegsstrategie

Nach dem deutlichen Wahlsieg der Regierungspartei AKP in der Türkei herrscht Ratlosigkeit bei allen drei Oppositionsparteien

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn (Österreich) hat der türkischen Regierung gerade ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt. In Bedrängnis ist dennoch die Opposition.

Auch zehn Tage nach den Parlamentswahlen in der Türkei hat die Opposition keine überzeugenden Antworten auf die Frage, wie sie mit dem überraschenden Sieg der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) umgehen will. Inzwischen gibt es auch Berichte der unabhängigen Wahlbeobachter, wonach es zwar Fälschungen und Manipulationen gab, aber nicht in einem entscheidenden Ausmaß.

Der Unterschied zwischen den Wahlprognosen, in denen die AKP bei circa 42 Prozent der Stimmen lag, und dem Wahlergebnis von 49 Pro-zent, lässt sich jedenfalls nicht allein mit Wahlfälschung erklären. Die Erkenntnis, dass die AKP offenbar mit ihrem Kriegskurs und der erpresserischen Parole »Entweder regieren wir, oder das Chaos regiert« erfolgreich war, stellt die Opposition vor große Schwierigkeiten. Eine erfolgreiche Strategie gegen eine Regierung, die bereit ist, Krieg zu Wahlkampfzwecken einzusetzen, ist nicht absehbar. Diese Herausforderung besteht für alle drei Oppositionsparteien, ungeachtet ihrer grundlegenden inhaltlichen Unterschiede. Schauen wir uns aber die Probleme der drei Parteien etwas genauer an.

Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hatte bisher auf die türkisch-nationalistische Karte und auf eine militärische Lösung der »Kurdenfrage« gesetzt. Diese Strategie der Wählermobilisierung geht nicht mehr auf in Zeiten, in denen die Regierungspartei deutlicher als zuvor türkisch-nationalistisch auftritt - im Unterschied zu den ersten Jahren der AKP-Herrschaft - und der Friedensdialog mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) abgelöst wird von einem realen Krieg in den kurdischen Gebieten. Was die MHP fordert, ist bereits Regierungspolitik. Als Programm einer Oppositionspartei taugt die bisherige MHP-Strategie also nicht - und als Koalitionspartnerin wird sie jetzt nicht benötigt. Damit droht der MHP die Bedeutungslosigkeit, wenn sie nicht einen neuen Ansatz unter neuer Führung findet. Parteichef Devlet Bahçeli hat aber alle Rücktrittsforderungen abgelehnt.

Die größte Oppositionskraft, die Republikanische Volkspartei (CHP), scheint besser dazustehen, auch weil sie ihren Stimmenanteil von 25 Prozent halten konnte. Allerdings dümpelt die Partei bei dieser Marke und scheint wenig Aussichten zu haben, breitere Bevölkerungskreise mobilisieren zu können. Das zentrale Problem der CHP ist, dass jede Änderung des politischen Programms, die neue Wähler erschließen könnte, Teile der bisherigen Wählerschaft verunsichern würde. Beispielhaft ist dafür die »Kurdenfrage«. Die CHP könnte mit einer stärkeren Gegnerschaft zum AKP-Kriegskurs sicherlich unter Kurden und Liberalen mehr Stimmen erhalten - gleichzeitig sie aber an diejenigen Wähler verlieren, die stärker türkisch-nationalistisch geprägt sind.

Nach den Wahlen vom 7. Juni war die linke Kraft, die Demokratische Partei der Völker (HDP), die große Hoffnungsträgerin. Jetzt, nach dem monatelangen Krieg, der weitergeht, und den Wahlverlusten vom 1. November, ist von dieser Hoffnung nur noch wenig zu spüren. Während die HDP auf Frieden setzte und damit bei der Wahl verloren hat, brachte der Kriegskurs der AKP Stimmen. Darauf hat die HDP vorerst keine Antwort. Auch trotzige Erklärungen wie von der HDP-Kovorsitzenden Figen Yüksekdag am Sonntag (»Wir sterben lieber, bevor wir Erdogan unterstützen«) können dies nicht verdecken.

Insgesamt wächst innerhalb der HDP die Enttäuschung über Teile der westtürkischen Öffentlichkeit, die gegenüber dem Krieg in den östlichen, kurdischen Gebieten gleichgültig sind. Gleichzeitig ist die PKK nicht länger bereit, einseitige Waffenruhen auszurufen, weil die AKP-Regierung weiter auf den Krieg setzt. Was aber tun, wenn große Teile der Bevölkerung kein sonderliches Interesse an der Friedensfrage zeigen und auch die Gegenseite, nämlich die PKK, kein Vertrauen in einen Friedensprozess hat?