Frankfurter Rundschau, 10.11.2015

Regierung Erdogan

Vernichtendes Zeugnis für die Türkei

Von Frank Nordhausen

Der Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte der Türkei bei der Annäherung an die Union fällt vernichtend aus. In dem Report ist von „bemerkenswerten Rückschritten“ die Rede, unter anderem im Konflikt mit den Kurden.

Noch nie ist ein Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte der Türkei bei der Annäherung an die Union so vernichtend ausgefallen: Von „bemerkenswerten Rückschritten“, „besorgniserregenden Entwicklungen“, „unzureichenden Bemühungen“ und „Stillstand“ ist die Rede im neuen Report, der am Dienstag in Brüssel veröffentlicht wurde. Die Kommission spricht von einem „insgesamt negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte“.

Zwar konzediert der Bericht auch Fortschritte, vor allem die „bemerkenswerten Anstrengungen“ der Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien. Vor allem aber ist von Rückschritten die Rede und von erlassenen „Schlüssel-Gesetzen“, mit denen das Beitrittskandidatenland „gegen europäische Standards verstoßen“ habe. Die Türkei wies die Brüsseler Kritik an Mängeln bei der Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Versammlungsfreiheit umgehend als „unfair“ und „teilweise unmäßig“ zurück.

Die EU-Kommission war unter Druck geraten, weil sie den brisanten Fortschrittsbericht nicht mehr vor der Parlamentswahl vom 1. November veröffentlicht hatte, bei der die islamisch-konservative AKP des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan ihre absolute Parlamentsmehrheit zurückgewann. Kritiker werfen ihr daher vor, Erdogan und die AKP unterstützt zu haben, um ein Entgegenkommen Ankaras in der Flüchtlingspolitik zu erreichen.

Konkret beklagt der Bericht Rückschritte bei der Durchsetzung von Grundrechten, der Unabhängigkeit der Justiz und der demokratischen Gewaltenteilung, die „seit 2014 unterminiert“ worden seien; Richter und Staatsanwälte seien erheblichem politischen Druck ausgesetzt. Auch sei der Kampf gegen die „weit verbreitete“ Korruption nachlässig, die Zahl strafrechtlicher Verfolgungen und Verurteilungen gehe zurück, Schonung fänden vor allem hochrangige Kreise.

Stillstand im Kurdenkonflikt

Zudem bemängelt die EU-Kommission den „Stillstand“ im Kurdenkonflikt und fordert Ankara zur Aussöhnung mit den Kurden auf. Ein neuerlicher Friedensprozess sei „zwingend“. Die jüngste Eskalation der Gewalt im Osten und Südosten des Landes habe darüber hinaus „zu ernster Besorgnis mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen geführt“; Ankara müsse die Verhältnismäßigkeit bei Anti-Terrormaßnahmen wahren. Der Schutz der Menschen- und Grundrechte habe sich zwar „in den vergangenen Jahren deutlich verbessert“, erklärte die EU-Kommission. Die Türkei müsse aber insbesondere die Rechte von Frauen, Kindern und Homosexuellen wirksamer garantieren sowie die soziale Einbindung von Minderheiten wie den Roma sicherstellen.

„Beträchtliche Besorgnis“ äußert Brüssel über die Presse- und Versammlungsfreiheit. Sie verweist auf „laufende und neue Strafprozesse gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medienfirmen sowie das Vorgehen der Behörden bei der Beschränkung der Medienfreiheit“. Auch die repressive Änderung der Internet-Gesetzgebung sei „ein bedeutender Rückschritt“. mit rtr/afp

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