junge Welt, 12.11.2015

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»Wir haben 1,3 Millionen Tonnen Schutt entsorgt«

Wiederaufbau im kurdisch-syrischen Kobani nach Sieg über den »Islamischen Staat« kommt voran. Gespräch mit Idris Nassan

Interview: Martin Dolzer

Die Volksverteidigungskräfte von Rojava YPG haben die Dschihadisten des »Islamischen Staates« (IS) aus Kobani vertrieben. Ein Großteil der Stadt liegt aber in Trümmern. Wie groß ist das Ausmaß der Zerstörungen?

Sie betreffen mehr als 75 Prozent der Gebäude Kobanis. Wir haben bereits mehr als 1,3 Millionen Tonnen Schutt entsorgt und einen ganzen Stadtteil von den Überresten der Kämpfe mit dem IS gereinigt. Momentan baut die Stadtverwaltung dort 1.500 neue Häuser. Von den vorher 450.000 Einwohnern der Provinz Kobani, sind mittlerweile mehr als 155.000 wieder zurückgekehrt. Die Türkei öffnet die Grenze in Kobani allerdings nur zweimal pro Woche. Der Andrang der Menschen, die zurückkehren wollen, ist groß.

Ein schneller und historisch korrekter Aufbau der Stadt Kobani ist Aufgrund des Mangels an Material und internationaler Unterstützung leider nicht möglich. Am wichtigsten ist derzeit die Wiederherstellung der Trinkwasserversorgung sowie die Traumaaufarbeitung und Stabilisierung der Menschen.

Wo leben die zurückkehrenden Flüchtlinge?

Ungefähr 120 Familien, also gut 1.000 Menschen, leben derzeit in Zelten, die weiteren überwiegend in unterschiedlich stark beschädigten Häusern. Es kommen viele internationale Delegationen nach Kobani, die Hilfe zusagen. Die Versprechen können aber oft nicht einhalten werden.

Besteht das Embargo durch die Türkei und die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (KRG) im Irak gegen Rojava noch?
Fabio de Masi GUE NGL

Ja, das ist ein großes Problem. Es werden kaum Hilfsgüter, Medikamente oder Baustoffe durchgelassen. Wenn überhaupt, dann meist verspätet und willkürlich seitens der KRG unter Präsident Masud Barsani.

Eine besonders destruktive Rolle spielt die Türkei. Hilfsgüter werden blockiert, und immer wieder werden Menschen an der Grenze verletzt oder erschossen. Und noch immer werden IS-Leute über die Grenze gelassen. Im Sommer begingen Kämpfer des IS, die zuvor ungehindert die Grenze passieren konnten, ein Massaker und erschossen nachts 265 Zivilisten in ihren Häusern. Und kürzlich hat die türkische Armee vermehrt Stellungen der YPG in Kobani und Tal Abyad über die Grenze hinweg mit leichten Waffen beschossen.

Derzeit baut eine internationale Gruppe in Kobani ein Krankenhaus wieder auf. Solche konkrete Hilfe ist sehr wertvoll. Von zuvor 15 Schulen haben wir sieben wieder geöffnet. Auch hier fehlt es an Materialien.

Welche Probleme gibt es in den ländlichen Regionen der Provinz Kobane?

Insgesamt ist die Lage stabil. Die YPG dringt immer weiter in Richtung Westen nach Jarabulus vor, dem letzten Grenzübergang des IS mit der Türkei. In der Provinz Kobani leben die Menschen hauptsächlich von der Landwirtschaft. Das größte Problem sind die Minen, die der IS auf den Feldern hinterlassen hat. Uns fehlt es an Technik, sie systematisch unschädlich zu machen, und die von den Vereinten Nationen zugesagte Hilfe ist noch nicht eingetroffen. So sterben immer wieder Kinder und Erwachsene durch explodierende Minen. In der Stadt konnten wir Minen und Sprengfallen mittlerweile entsorgen.

Wie funktioniert das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Kobani?

In der Stadt lebten und leben mehr als 90 Prozent Kurden. Deshalb hat der IS hier auch derart gewütet und mit allen Mitteln versucht, Kobani zu erobern. In den ländlichen Regionen der Provinz ist der Anteil der Araber, Armenier, Assyrer und Turkmenen größer. Wir sind dabei, gemäß dem Modell des Demokratischen Konföderalismus, Rätestrukturen in Kommunen, Stadtteil- und Dorfräten aufzubauen. Insbesondere die Versöhnung und das Etablieren eines respektvollen Zusammenlebens aller Bevölkerungs- und Religionsgruppen ist uns wichtig.

Nachdem die YPG viele Dörfer mit überwiegend arabischer Bevölkerung befreit hatte, fürchteten die Menschen dort Racheakte oder Vertreibungen. Inzwischen haben sie erlebt, dass diese Sorgen nicht begründet waren. Ein Bericht von Amnesty International über angebliche Vertreibungen ist mittlerweile widerlegt. Wir können sagen, dass Kobani aufatmet.