freitag.de, 11.11.2015

https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/noch-schaerfer

Kareem Shaheen

Ausgabe 4215 | 11.11.2015 | 06:00

Noch schärfer

Auf Trauermärschen für die Ermordeten des Terroranschlags in dieser Woche entlädt sich viel Wut über die Machthaber in Ankara

Gokhan Tan/Getty

Männer und Frauen weinen ganz offen und klatschen, als ein Sarg mit roten Nelken durch die Menge getragen wird. Sie erweisen einem toten Aktivisten die letzte Ehre. „Wir haben so viele wundervolle Menschen verloren“, sagt Ahmet, während in Ankaras Vorort Batikent bei einer Trauerfeier Aktivisten mit ihren Reden an die Ermordeten erinnern. Als die Familien der Toten durch die Menge geleitet werden, klingen die Protestrufe noch schärfer, noch lauter.

„Am Ende wird Tayyip Erdoğan in Handschellen gelegt, von einem Gericht verurteilt und im Gefängnis landen“, glaubt Musa Cam, ein Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Bei anderen ist die Wut gedämpfter. „Wir haben zu sehr gelitten“, meint Fatima, eine Künstlerin, die an diesem Marsch teilnimmt, weil sie der Regierung zeigen will, nicht eingeschüchtert und verängstigt zu sein. „Ich bin gekommen, um Blumen niederzulegen und den Schmerz der Familien zu teilen. Wir haben es satt, dass der Tod bei uns immer mehr zur Normalität gehört. Wir müssen etwas unternehmen.“

„Tagelang konnte ich nicht weinen, ich stand zu sehr unter Schock“, murmelt Mustafa mit tränenüberströmtem Gesicht, als er einen Freund umarmt, dessen Bruder bei dem Anschlag ums Leben kam. Beim Defilee tragen Demonstranten in der ersten Reihe die Bilder der Opfer durch die Straßen Ankaras. Die Organisatoren sorgen selbst für Leibesvisitationen, um zu verhindern, dass sich das Grauen des 10. Oktober wiederholt – als 128 Menschen am Bahnhof von Ankara starben. Vielleicht auch mehr, noch sind nicht alle zweifelsfrei identifiziert. Traf die Teilnehmer eines Friedensmeetings tödlicher Hass, weil sich ihr Protest gegen die eskalierende Gewalt zwischen der türkischen Armee und der durch Präsident Erdoǧan als „kriminelle Bande“ geschmähten Arbeiterpartei Kurdistans PKK richtete. Unter den sich sammelnden Demonstranten warteten irgendwo die Attentäter mit ihren Sprengstoffgürteln und sorgten für den barbarischsten Angriff auf türkischem Boden seit langem. Drei Tage Staatstrauer werden dem nicht gerecht.

Regenwolken verdunkeln den Himmel und verleihen der Hauptstadt zu Wochenbeginn eine noch gedämpftere Atmosphäre als sonst. Sie passt zur Jahreszeit, aber nicht zur oft rasenden Verzweiflung der Menschen, die sich stets von neuem zu Protestzügen vereinen. Für sie gibt es keinen Zweifel, wem ihre Empörung gilt, und wer schuldig ist. „Dieb und Mörder Erdoǧan!“, skandieren Tausende auf dem Sihhiye-Platz im Zentrum. „Tod dem Faschismus!“, stimmen andere ein.

Die Türkei ist nicht mehr nur gespalten, sondern zerrissen. Die Bomben vom Samstag haben die Gräben zwischen den Anhängern der Regierung Erdoğan samt seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der Opposition zu Fronten werden lassen. Es entlädt sich ein Sturm des Ungehorsams und Aufruhr gegen eine Macht, die viele in Ankara, aber ebenso in Istanbul für die Anschläge verantwortlich machen. Polizei und Behörden hätten die Kundgebung in keiner Weise geschützt, meint Mustafa. „Und sie wussten, warum sie unterließen, was nötig war. Angst und Chaos im Land erscheinen als beste Gewähr, um die Wahlen am 1. November so zu gewinnen, dass es für die AKP wieder eine absolute Mehrheit gibt.“

Die Proteste nach dem Attentat bezeugen, dass der Widerstand gegen die Diskriminierung von Kurden und Aleviten, die neben linken Gruppen und Gewerkschaften prominent auf dem Meeting vom 10. Oktober vertreten waren, ungebrochen ist. „Jetzt haben wir 128 Märtyrer mehr“, sagt der Kurde Hasan, der einen Neffen verloren hat, während ein Bruder schwer verletzt wurde. Er spricht vor dem Numune-Krankenhaus im Herzen Ankaras, wo viele Angehörige der Opfer auch Tage nach dem Massaker nicht weichen und warten.

Ahmet erzählt anschaulich, was unmittelbar nach der Detonation am Bahnhof passiert ist. Angehörige der Opfer habe die Polizei mit Tränengas eingedeckt, als sie am Tatort nach ihren Vätern, Männern und Frauen oder Geschwistern suchen wollten. „Es wurde mit scharfer Munition in die Luft geschossen, um unter den Menschen Panik zu verbreiten.“ Wie alle anderen auch habe er Angst vor Repressionen und wolle nicht in einer Gefängniszelle verschwinden. Trotzdem falle schon auf, dass von der AKP abgehaltene Kundgebungen nie das Ziel von Attentätern seien. Stattdessen treffe es stets Manifestationen der Opposition und der Kurden, die niemand schützt. „Im vergangenen Jahr sind wir ein ums andere Mal angegriffen worden. Wer in der Türkei den Frieden und die Menschenrechte verteidigt, der muss damit rechnen, dass er mundtot gemacht wird oder einfach nicht überlebt.“

Das Treffen der Opposition vom Samstag sollte ein Zeichen für das Ende der monatelangen Gewalt setzen, die das Land seit einem Selbstmordanschlag gegen kurdische Aktivisten im Grenzort Suruç heimsucht. Die Regierung Erdoğan, die den Islamischen Staat (IS) für diesen Terrorakt verantwortlich machte, nutzte das Geschehen und die folgenden Gewaltausbrüche als Vorwand, um massiv gegen die PKK vorzugehen. Damit ist jedwede türkisch-kurdische Verständigung bis auf weiteres gestört. „Wir trauern, aber wir sind auch empört“, sagt Selahattin Demirtas, Oppositionspolitiker und Führer der prokurdischen HDP, vor mehreren tausend Sympathisanten. „Aber wir werden weiterkämpfen und die Demokratie zurückerobern.“

Kareem Shaheen berichtet als Nahost- Korrespondent unter anderem für den Guardian

Übersetzung: Holger Hutt