Die Presse, 13.11.2015

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Nordirak: Kurden starten Großangriff auf IS

Kurdische Einheiten versuchen, die jesidische Stadt Sinjar zu befreien. Damit würde der IS seine Verbindungslinie zwischen seiner Hauptstadt Raqqa und Mosul verlieren.

von unserem Mitarbeiter MARTIN GEHLEN (Die Presse)

Kairo. 15 Monate nach der Eroberung des Sinjar-Tals durch die Terrormiliz des Islamischen Staates haben kurdische Truppen am Donnerstag begonnen, die Kreisstadt Sinjar und die vorbeiführende Überlandstraße in ihre Gewalt zu bringen. Den ganzen Tag bombardierten US-Kampfflugzeuge Stellungen der Gotteskrieger, die etwa 80 Prozent des Stadtgebietes kontrollieren. Dunkle Rauchwolken standen am Himmel, auf Videos waren erste Straßenkämpfe zu sehen.

Die 7500 angreifenden Peshmerga der nordirakischen Kurdenregion sind unter anderem ausgerüstet mit deutschen Lenkwaffen vom Typ Milan sowie G-36-Schnellfeuergewehren. An den Gefechten sollen sich auch die kurdischen Guerrillaeinheiten der PKK und die mit ihnen verbündeten Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus den syrischen Kurdengebieten beteiligen.

Sollte es den kurdischen Einheiten und jesidischen Milizen gelingen, den Islamischen Staat aus Sinjar zu vertreiben, wäre das ein Sieg von hoher symbolischer Bedeutung. Die strategisch wichtige Nachschubroute des IS zwischen Syrien und Irak wäre gekappt. Die umkämpfte Überlandstraße 47 verbindet das IS-Hauptquartier im syrischen Raqqa mit der irakischen Metropole Mosul, deren fast drei Millionen Einwohner ebenfalls von den Jihadisten beherrscht werden.


IS-Massaker an Jesiden

Im August 2014 hatten die Jihadisten die jesidischen Bewohner des Sinjar-Tals angegriffen und wollten die seit Jahrhunderten dort ansässige religiöse Minderheit zwingen, zum Islam zu konvertieren. 5000 Männer wurden nach UN-Angaben massakriert, mehr als 7000 Frauen und Kinder nach Mosul entführt und dort als Sex-Sklavinnen an Jihadisten in Syrien und im Irak verkauft.

Die in der Region stationierten Peshmerga ließen damals die Bewohner im Stich und zogen sich kampflos in Richtung Erbil zurück, der nordirakischen Provinzhauptstadt. Zehntausende zu Tode verängstigte Jesiden flohen in das karge Hochgebirge, ein Drama, das die gesamte Welt bewegte. Die meisten Familien konnten sich erst nach tagelangen Märschen und unter dem Schutz von syrischen YPG-Kämpfern, die mit der türkischen PKK verbündet sind, auf der gegenüberliegenden Seite der Bergkette in Sicherheit bringen. Rund 150.000 Jesiden aus dem Sinjar-Tal leben heute in Zeltlagern und Containerdörfern im Nordirak in der Region um Dohuk. Das Massenverbrechen an der Minderheit war mit ausschlaggebend für US-Präsident Barack Obama, im Irak erneut in den Krieg zu ziehen und Angriffe seiner Luftwaffe auf den IS zu befehlen. Die Peshmerga haben im Kampf gegen die Terrormiliz bisher 1260 Männer verloren, 7300 wurden verwundet. Nato-Ausbilder trainieren die Soldaten seit etwa einem Jahr auf dem Gelände des alten Flughafens von Erbil in Häuserkampf und Gefechtstaktik.


Sprengfallen und Scharfschützen

Bis zum Abend gelang es der kurdischen Streitmacht, eine Reihe von Dörfern zu besetzen sowie in einzelne Außenbezirke von Sinjar vorzudringen. Eine Eroberung der Kreisstadt jedoch ist nach Einschätzung von Militärexperten langwierig und schwierig. Die IS-Extremisten haben ganze Viertel mit Sprengfallen vermint und Nester mit Scharfschützen platziert.

Nach Erkenntnissen des kurdischen Generalstabs wurden in den vergangenen Wochen zusätzliche Jihadisten nach Sinjar verlegt, so dass deren Zahl jetzt etwa 700 beträgt. Vor einem Jahr versuchten kurdische Einheiten schon einmal einen Angriff auf Sinjar, damals konnten sie 20 Prozent der Stadt erobern, bevor sich ihre Offensive festfuhr. Seitdem haben regelmäßige Artillerieduelle beider Seiten einen Großteil der Bebauung in Schutt und Asche gelegt.

Auch in anderen Regionen von Irak und Syrien gerät der IS unter Druck. In der Anbar-Provinz im Westirak umzingelten Regierungstruppen die Stadt Ramadi. Zuvor konnten sie die Jihadisten von dem Gelände der Baiji-Raffinerie auf halbem Wege zwischen Mosul und Bagdad vertreiben, die durch die Kämpfe völlig zerstört ist. Im kurdischen Nordsyrien sammelt sich derweil eine kurdisch-arabische Koalitionsarmee, die in den nächsten Wochen einen Angriff auf die IS-Hauptstadt Raqqa versuchen will.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2015)