telepolis, 12.11.2015 http://www.heise.de/tp/news/Erdogans-Rache-in-Nordkurdistan-2919171.html Erdogans Rache in Nordkurdistan Elke Dangeleit Kurden klagen über Terror in Silvan, Provinz Diyarbakir. Politiker warnen vor neuen Fluchtbewegungen Seit dem 3. November 2015 hat die türkische Regierung eine Ausgangssperre über die kurdische 45.000- Einwohner-Stadt Silvan (kurd. Farquin) in der südostanatolischen Provinz Diyarbakir verhängt. Der Gang zum Bäcker, zum Arzt oder zur Schule ist in Silvan lebensgefährlich: Die Bewohner von drei Stadtteilen dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, nicht mal für die notwendigsten Besorgungen. Darüber hinaus wurden Wasser, Strom und Telefon abgestellt. Es scheint, dass sich Erdogans Schergen für das Wahlergebnis rächen wollen - die linke, prokurdische demokratische Partei der Völker (HDP) erreichte dort fast 90% der Stimmen. Mehrere Menschen sind in den letzten Tagen schon erschossen worden, viele wurden verletzt, zuletzt wurde ein 5-jähriger Junge schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Sondereinheiten der Polizei beschossen z.B. am Montag außerhalb des Sperrgebietes ein Kaffeehaus, ein Mann starb, vier weitere wurden verletzt. Der Fernsehsender Med Nuce zeigte am Montagabend, wie Kampf- und Schützenpanzer in die Stadt einrückten, Bilder von verwüsteten Straßenzügen und zerstörten Wohnhäusern erinnern eher an Kobanê als an eine türkische Kleinstadt. Scharfschützen auf den Dächern schießen auf Zivilisten. Die Lage spitzt sich immer mehr zu, die Abgeordnete der HDP, Sibel Yigitalp, warnte vor einem Massaker, sollte es den Sondereinheiten der Polizei gelingen, in die Stadtviertel einzudringen. Am Mittwoch, den 11. November, hat die türkische Armee mit einem Großangriff begonnen, Panzer und Kampfhubschrauber beschießen Wohnhäuser. Die kurdische Studentenvereinigung YXK in Deutschland hat angesichts der dramatischen Lage einen Live-Ticker eingerichtet, um die europäische Öffentlichkeit zu informieren. Die Bundestagsabgeordnete
der Linken, Ulla Jelpke, fordert in einer Pressemitteilung die Bundesregierung
auf, dass sie zu Erdogans Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung nicht
länger schweigen darf. Tatsächlich fliehen auch viele Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, die in der Türkei in den Flüchtlingslagern untergekommen sind, mittlerweile vor den Türken. Christen und Eziden (Jesiden), die hoffnungsvoll verlassene ezidische und christliche Dörfer mit Unterstützung ihrer Verwandten aus Europa wiederbesiedeln wollten, sehen sich zunehmenden Repressionen ausgesetzt. Von der Nicht-Anerkennung von Grund- und Bodenbesitz aus den 1990er Jahren bis zur Zwangsislamisierung in den Flüchtlingslagern - nur wer am Islam-Unterricht teilnimmt, darf eine Schule besuchen -, sind die nicht-muslimischen Flüchtlinge in der Türkei besonderen Repressionen ausgesetzt. Sie trauen sich nicht, vor Kamera oder Mikrophon über die schlechte Behandlung in den staatlichen Lagern zu berichten. Besonders die schwerst traumatisierten Eziden wollen vor allem Eines: nach Europa in die Sicherheit. Das ist fatal, weil dadurch diese alte Religion unterzugehen droht. Ein europäisches Engagement zum Schutz dieser Minderheit im Shengal/Irak wäre angesagt - auch um weitere Flüchtlingsströme nach Deutschland zu verhindern. Es ist nämlich auch Erdogan, der mit seiner Politik gegenüber Syrien die Flüchtlingsströme produziert. Politisch genehme Flüchtlinge werden gerne aufgenommen - und dürfen schnell mal mit die AKP wählen und Vorteile genießen. Die Menschen in Nordkurdistan sind kriegsmüde. Gesellschaftliches Leben findet dort seit Monaten nicht mehr statt. Konnte man vor einem Jahr z.B. in Cizre, einer Stadt nahe dem Grenzübergang zur autonomen Kurdenregion im Nordirak, noch abends unbeschwert Freunde besuchen und in einer Bar ein Bier trinken gehen, ist es heute so, dass mit Einbruch der Dunkelheit die Menschen Angst um ihre Angehörigen und Freunde haben, die noch nicht zurückgekehrt sind, und keiner mehr ausgeht. Barrikaden säumen
die Straßen und selbst die junge Bürgermeisterin von Cizre, eine kurdische
Bremerin - vom Gouverneur ihres Amtes enthoben -, kann ihr Stadtviertel,
ja ihr Haus kaum verlassen. Und trotzdem erwarten die Menschen von ihr,
dass sie die Dinge richtet. Sie kann kaum helfen, die Angst, selbst verhaftet
zu werden, ist groß. Verhaftet zu werden in Kurdistan bedeutet mittlerweile
wie in den 1990er Jahren, der willkürlichen Folter der politischen Organe
ausgesetzt zu sein.
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