junge Welt, 13.11.2015

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Ein System aus Frauenhand

Veranstaltung in Frankfurt am Main über den Aufbruch zu einem neuen Gesellschaftsmodell in der kurdisch-syrischen Region Rojava.

Von Gitta Düperthal

Zu Beginn gedachten alle der Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die im Befreiungskampf um Rojava gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) ihr Leben verloren. Auf der von »FrauenLesbeninProcess« und dem kurdischen »Amara Frauenrat« organisierten Diskussion am 5. November in Frankfurt am Main ging es um den Aufbruch zum emanzipierten Zusammenleben zwischen den Geschlechtern in der kurdischen Autonomieregion im Norden Syriens. Rund 70 interessierte Frauen waren gekommen.

»Wir haben Respekt vor ihnen, wollen an das erinnern, was ihnen wichtig war, um die Gesellschaft in ihrem Sinn weiterzuentwickeln«, sagte Meike Nack, Mitglied der Stiftung der freien Frauen in Rojava (Weqfa Jina Azad a Rojava, WJAR), die dort seit einem Jahr Projekte mitorganisiert. Fotos an den Wänden des Veranstaltungsraums zeigten verstorbene junge Kurdinnen sowie die in Duisburg geborene Ivana Hoffmann. Die 19jährige hatte sich den YPJ angeschlossen und war im März bei Kämpfen getötet worden. Unvergessen auch Arin Mirkan, die – als die Situation ihrer Brigade im Kampf gegen den IS hoffnungslos war – mit einem Selbstmordanschlag IS-Kämpfer mit in den Tod riss und so das Leben mehrerer Frauen rettete.

Ziel des Zusammentreffens in Frankfurt war es, über die aktuelle Situation in den drei an der Grenze zur Türkei in Nordsyrien gelegenen Kantonen von Rojava, Efrin (arabisch Afrin), Kobani und Cizire, zu informieren und Solidarität für sie zu organisieren. Nack lebt seit einem Jahr im derzeit vom IS weniger bedrängten Cizire, wo es den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ kürzlich gelang, in Richtung Kobani liegende Landstriche freizukämpfen und beide Kantone einander anzuschließen. Im seit langem isolierten Efrin hingegen leide die Bevölkerung unter Lebensmittelknappheit: Im Süden riegeln der IS und die islamistische Al-Nusra-Front das Gebiet ab, im Westen und im Norden liegt die zunehmend schärfer bewachte türkische Grenze. Die Türkei weigere sich, Korridore zu öffnen und verhindere so auch die Einfuhr von Nahrungsmitteln.

Die deutsche Aktivistin berichtete über Projekte der WJAR mit Sitz in Qamislo (Cizire), in der sich bislang 50 Frauen organisieren. Die Stiftung beabsichtige, ein Frauendorf zu bauen, in dem ehemals vom IS vergewaltigte und verschleppte Frauen leben können; jene, die sich gegen patriarchale Verhältnisse in der eigenen Familie wehren, weil ihnen Zwangsheirat droht – und solche, die bevorzugt in Frauengemeinschaften leben möchten. Es gebe bereits Schutzhäuser, Frauenkultur- und Gesundheitszentren. Die Stiftung plane weiter, die Subsistenzwirtschaft zu fördern, einen Frauenpark einzurichten. Außerdem gelte es, ein Gesundheitssystem von Frauenhand aufzubauen. Zur Aufarbeitung traumatischer Kriegserlebnisse seien Selbsthilfegruppen gegründet worden, eine einzige Psychologin in Cizire gebe hierfür Anregungen. »Wir müssen alles selber machen, Müllentsorgung, Versorgung mit Strom und Wasser«, berichtete Meike Nack. Die Stadtverwaltung von Sere Kaniye (arabisch Ras Al-Ain) habe kürzlich eine zuvor vom IS beherrschte Einrichtung dem Frauenrat übergeben.

Natürlich gebe es Widerstände gegen die Arbeit der Frauen, sagte Nack auf eine Frage aus dem Publikum. Viele der aus allen Teilen Syriens nach Rojava geflüchteten Frauen hätten jahrelang in einem Umfeld gelebt, in dem sie sich nicht einmal auf der Straße hätten blicken lassen dürfen. Männer in Rojava hätten allerdings Respekt vor Frauen gewonnen, weil diese in den YPJ maßgeblich an der Befreiung vieler Dörfer vom IS mitgewirkt oder in den Sicherheitskräften mit mutigen Kontrollen Selbstmordkommandos des IS daran gehindert hatten, in die Städte einzudringen.

Die WJAR hat sich bei den Frauen in der Region in einer Umfrage nach ihrer Lebenssituation erkundigt. 71 Prozent würden demnach gern einer Berufstätigkeit nachgehen. 60 Prozent interessierten sich für Bildungs- und Kinderbetreuungsangebote, 50 Prozent für bezahlbare Gesundheitsversorgung. Die Stiftung biete Vorschulkurse für die Kinder und Fortbildungen für Eltern, in denen es unter anderem darum gehe, beim Nachwuchs solidarisches Verhalten zu fördern. Besonderer Respekt gelte den rund 200 Waisenkindern von Kobani: »Ihre Familien und sie haben dort durchgehalten, die Region gegen den IS verteidigt.« Die Frauenbewegung kümmere sich deshalb um sie in besonderer Weise.

Maßgebliche gesellschaftspolitische Entscheidungsinstanz sei der Frauenrat, unter anderem getragen von Frauen der PYD, Partiya Yekitiya Demokrat (Partei der Demokratischen Union), der Stiftung WJAR und der autonomen Frauenbewegung (Yekitiya Star).

Auf die Frage von Teilnehmerinnen, wie sie von Deutschland aus helfen können, sagte Nack, es sei wichtig, für die Aufhebung des Verbots der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, gegen Waffenexporte und jegliche, auch indirekte Unterstützung des IS öffentlich einzutreten. Menschen aus Rojava würden nicht nach Deutschland fliehen, wenn die Europäische Union sie vor Ort besser unterstützte.