welt.de, 15.11.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article148872189/Wie-die-Pariser-Anschlaege-Erdogan-in-die-Haende-spielen.html G 20 in der Türkei Wie die Pariser Anschläge Erdogan in die Hände spielen Der G-20-Gipfel in Antalya wird zur großen Bühne für Staatspräsident Erdogan. Die politische Lage spielt ihm in die Hände. Er will, dass die Welt die türkische Sicht auf den Kurdenkonflikt übernimmt. Von Deniz Yücel Es ist das erste Mal, dass die Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G 20) in der Türkei tagen, und für einen soll der Gipfel zur großen Bühne werden: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) . Damit auch ja nichts schiefgeht, inspizierte er vorige Woche persönlich die Tagungsstätten im südanatolischen Antalya und erteilte die Anweisung, für jeden Gast eine Packung der Süßspeise Lokum herstellen zu lassen. Ob auch die individuell angefertigten Handtücher und Bademäntel (Link: http://www.hurriyet.com.tr/g20-liderlerinin-havlusu-denizliden-40013161) , bedruckt mit Namen und den jeweiligen Landesflaggen, seine Idee waren, ist ungewiss. Bekannt ist nur, dass jeder Staats- und Regierungschef jeweils zwei Sets bekommen soll: eines zum Gebrauch vor Ort, das andere zum Mitnehmen. Man muss jedoch davon ausgehen, dass Erdogan die Idee, Obama, Merkel und Co. im Stile von olympischen Schwimmern auszustaffieren, gebilligt hat. Offen ist auch, ob Erdogan ähnlich barockes Mobiliar nach Antalya transportieren ließ wie die Stühle, die er beim Besuch von Angela Merkel Mitte Oktober präsentierte. (Link: http://www.welt.de/147753383) So oder so: Der Gipfel wird seine Show. Innenpolitisch betrachtet ist es zweitrangig, welche Vereinbarungen tatsächlich auf dem Gipfel getroffen werden. Schon den Merkel-Besuch hatten die regierungstreuen Medien als Triumph für Erdogan gefeiert – mit dem Tenor: "Ein paar Tausend Flüchtlinge in Europa und die Bundeskanzlerin kriecht vor ihm zu Kreuze." Erdogan trifft Merkel, Obama und Putin Diesen G-20-Gipfel dürften die von seiner AKP-Partei kontrollierten Medien – etwa die Hälfte der gedruckten Presse sowie ein großer Teil der Fernsehsender – in ein ähnliches Licht rücken. "Der Antalya-Gipfel wird ein Wendepunkt", titelte am Samstag das auflagenstärkste Blatt der AKP-Presse, die von Erdogans Schwiegersohn kontrollierte "Sabah". Und zum Gipfelauftakt am Sonntag folgte die Schlagzeile: "Unser stolzer Tag". Vor allem aber ist es für Erdogan ein stolzer Tag. Dass laut der türkischen Verfassung eigentlich der Ministerpräsident die Richtlinien der Politik bestimmt, interessiert ihn schon lange nicht mehr. Er tut einfach so, als sei die Türkei bereits die Präsidialrepublik, die er will, (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article145342795/Herr-Erdogan-schafft-sich-ein-Praesidialsystem.html%C2%A0) um anschließend zu behaupten, das politische System habe sich "faktisch geändert". Deshalb tritt Erdogan auch in Antalya als Gastgeber auf. So traf er sich am Sonntagvormittag mit Obama; am Montag werden unter anderem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und in seiner Funktion als amtierender EU-Ratspräsident Donald Tusk folgen. Dazwischen sind Treffen mit dem französischen Außenminister Laurent Fabius angesetzt, der nach den Anschlägen von Paris anstelle von François Hollande angereist ist, außerdem mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und auch mit Angela Merkel. Eine gute Gelegenheit, um sich für die Wahlkampfunterstützung der Kanzlerin zu bedanken, ist die Alleinherrschaft der AKP doch Bedingung für Erdogans De-facto-Präsidialregime. Flüchtlingskrise auf der Tagesordnung Für Ahmet Davutoglu hingegen, der noch als Interimsregierungschef fungiert und die Türkei auf dem letzten G-20-Gipfel im australischen Brisbane vertreten hatte, ist nur noch eine Statistenrolle vorgesehen. Bilaterale Gespräche hat er in Antalya nicht auf seinem Programm, nur bei einem Empfang am Abend wird er offiziell als Gastgeber firmieren. Und wenn Erdogan am Montag die Abschlusserklärung abgibt, wird er bereits abgereist sein. Ein Schwerpunkt des Gipfels ist die Flüchtlingskrise, die die Türkei auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die übrigen Themen wie Weltwirtschaft und Klimawandel dürften nach den Anschlägen von Paris am Samstagabend deutlich in den Hintergrund treten. Das zeigte sich auch bei der kurzen Pressekonferenz von Obama und Erdogan im Anschluss an ihr Treffen: Sie sprachen von einer "Partnerschaft" im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) und erklärten, dass sie auch über die Lage in Syrien beraten hätten. Bereits in der Nacht zu Samstag hatte Erdogan eine erste Stellungnahme zu den furchtbaren Ereignissen in Paris abgegeben: Der Terror habe "keine Religion, keine Nation und keine Rasse". Man müsse das Verständnis "Mein Terrorist ist gut, deiner ist böse" überwinden. Jede Form des Terrorismus sei böse, die Türkei wisse dies aus 30-jähriger Erfahrung. Erdogan nutzt Anschläge für seine Interessen Doch wer als Terrorist eingestuft wird, ist immer auch eine politische Frage. So gilt beispielsweise die Freie Syrische Armee in der westlichen Welt nicht als terroristisch, in Russland aber schon. Für die Türkei wiederum ist die palästinensische Hamas keine Terrororganisation; Hamas-Chef Khaled Maschal war mehrfach Ehrengast auf Parteitagen der AKP. Mit diesen Einlassungen verfolgt Erdogan zum einen das ideologische Ziel, jedweden Bezug zwischen dem Dschihadismus und dem Islam beiseitezuwischen. Sein Chefberater Burhan Kuzu verstieg sich sogar zur Behauptung, das Ziel der Attentäter von Paris sei es, das französische Volk vom Islam abzuhalten, schließlich gebe es nirgends in Europa so viele Konvertiten wie in Frankreich. Doch das ist nicht alles. Zugleich versucht Erdogan, nicht nur die Flüchtlingskrise, sondern auch die Anschläge von Paris für seine eigenen Interessen zu nutzen: Er will, dass die Welt die türkische Sicht auf den Kurdenkonflikt und die Kurdenpartei PKK übernimmt. Der Gipfel von Antalya kommt da wie gerufen. In den Augen der türkischen Regierung ist die syrisch-kurdische PYD, die zu den effektivsten Kräften im Krieg gegen den IS gehört, identisch mit der PKK. Neben dem Sturz von Syriens Machthaber Baschar al-Assad um jeden Preis war die Eindämmung des kurdischen Einflusses der zweite Grund, weshalb es Ankara lange Zeit duldete, dass alle dschihadistischen Gruppen in Syrien sich über die Türkei mit Rekruten und Nachschub versorgten. Türkische Prioritäten in Syrien fragwürdig Inzwischen ist die Türkei der Koalition gegen den IS beigetreten, doch immer noch bombardiert die türkische Luftwaffe fast ausschließlich Stellungen der PKK im Nordirak. Immerhin geht die Polizei seit dem Anschlag von Ankara (Link: http://www.welt.de/148860612) im Inland gegen den IS – oder zumindest Teile davon – vor. Erst am Sonntag sprengte sich in Gaziantep im Südosten des Landes ein IS-Mitglied bei einer Razzia in die Luft. Andererseits behaupteten Erdogan und Davutoglu nach dem Anschlag von Ankara allen Ernstes, die PKK habe mit dem IS gemeinsame Sache gemacht (Link: http://www.welt.de/147521424) . Und erst kürzlich warnte Davutoglu die PYD davor, "den Euphrat zu überschreiten". Das sei für die Türkei eine "rote Linie". Westlich des Flusses Euphrat, also zwischen den von der PYD kontrollierten Orten Kobani und Afrin, liegt Dscharabulus – die letzte vom IS beherrschte Stadt an der türkischen Grenze. Noch immer sind die türkischen Prioritäten in Syrien also fragwürdig. Doch wenn die anderen Staats- und Regierungschefs diese nicht kritisch hinterfragen und die türkische Terrorismusdefinition unangezweifelt bleibt – und sei es nur, weil die Türkei die Flüchtlinge als politisches Druckmittel einsetzt –, dann wäre dieser Gipfel tatsächlich ein stolzer Tag für Erdogan. |