Der Tagesspiegel, 17.11.2015

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Hauptstadt des IS

Raqqa: Die gekidnappte Stadt

Von Mohamed Amjahid

Raqqa galt in Syrien als multikulturell und liberal. Dann wurde es zur Kapitale des „Islamischen Staats“ – der Terror ist heute Alltag. Angesichts der aktuellen Lage publizieren wir hier unser Stück, in dem Menschen aus Raqqa zu Wort kommen, aus dem vergangenen November erneut.

Raqqa, auf das die französische Luftwaffe jetzt verstärkt Angriffe fliegt, galt lange als multikulturell und liberal. Im vergangenen November sprach unser Autor mit Menschen aus Raqqa. Angesichts der aktuellen Lage veröffentlichen wir seinen Text hier erneut.

Kurz nach Beginn der syrischen Revolution im März 2011 war es in Raqqa ruhig. Dabei wurde der Widerstand gegen das Assad-Regime im weit entfernten Hama, im Südwesten Syriens, immer intensiver. Zum ersten Mal erschoss die Polizei demonstrierende Kinder. Und die ganze Welt fragte sich, wohin dieser staatliche Terror gegen den wütenden, aber friedlichen Protest führen würde.

Am Euphratbogen hatten sie damals andere Probleme: Raqqa rätselte über das Mysterium einer Uhr. Der zentrale Platz der Stadt ist ein Kreisverkehr, und auf der Verkehrsinsel in der Mitte steht Raqqas Wahrzeichen: Zeitanzeige, Kriegsdenkmal und Versammlungsort in einem. Wenn sich ein Raqqawi, wie die Bewohner der Stadt heißen, verabreden will, heißt der naheliegende Vorschlag: „Sehen wir uns an der Uhr?“ Der Obelisk mit dem Ziffernblatt ist nicht zu übersehen oder zu überhören; zu jeder Stunde läutet es.

Doch mit Beginn der noch fernen Revolution blieb die Uhr stehen. Über Nacht wechselte das Ziffernblatt die Farben. Niemand wusste, warum. Eines Tages war die Uhr blau wie der Euphrat, am nächsten Morgen gelb, dann pechschwarz. War es vielleicht ein Künstler, der eine zeitlose Botschaft sandte?

Eine funktionierende Stadtverwaltung, die eine Reparatur hätte veranlassen können, gab es nie in Raqqa. Und die normalerweise übereifrige Staatssicherheit hatte gerade anderes zu tun. „Wenn die Uhr von Raqqa sich nicht mehr dreht, hat die Stunde von Syrien geschlagen“, schrieb eine Lokalpatriotin in einem Internetforum am 8. Juni 2011 um 18.16. Die Uhr war da immer noch kaputt.

Raqqa liegt im Zentrum Syriens. Gegründet wurde die Stadt etwa im Jahr 240 vor Christus von den alten Griechen – als Kallinikos. Unter den byzantinischen Eroberern bekam sie später den Namen „Stadt des Löwen“, Kaiser Leo I. wollte sich damit ein Denkmal setzen. Die muslimischen Abbasiden nannten den Ort dann al-Raqqa. Übersetzt bedeutet das „platter Stein“. Ein Symbol dafür, dass an den Ufern des Euphrat alle Kulturen des Nahen Ostens zusammenkommen. Die verschiedenen Einflüsse haben sich in der Architektur niedergeschlagen.
Erinnerungen an ein Leben in Syrien vor dem Krieg von Marc Röhlig
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"Unser Kommandant für die Ewigkeit": Statuen, Poster und Embleme mit Hafiz al-Assad gibt es in Syrien an vielen Stellen. Der Altpräsident hat das Land dreißig Jahre regiert - dann übernahm Sohn Bashar. Sein Amtsantritt im Jahr 2000 versprach...
...eine Öffnung des Landes. Diese beschränkte sich jedoch vor allem auf Pepsi-Importe - soziale Ungerechtigkeit und politische Unfreiheit blieben. Syrien war vor dem Bürgerkrieg dennoch keine sichtbare Diktatur, sondern ein Land, dass seinen Bürgern bescheidenes Glück versprach. Zu Nationalfeiertagen und Festen...
...wurden die Kinder mit Plastikwaffen beschenkt. Wer durch die Straßen ging, konnte tagelang kleinen Platzpatronen-Duellen beiwohnen. Die waffenstarrenden Gesten kannten die Kinder aus amerikanischen Actionfilmen.
Viele Syrer hatten einen heimlichen Zweit- oder Dritterwerb. Heimlich heißt, das es der Staat wusste, aber duldete. Es gab Veterinärmediziner, die nachts Taxi fahren mussten, um sich eine Wohnung zu leisten. Oder Caféhausbetreiber...
...die vom Wasserpfeifen-Geschäft zum Internetshop- oder Krämerladen aufrüsteten. Der Altersschnitt lag vor dem Bürgerkrieg bei...
...unter 25 Jahren. Syrien war so ein Land der Kinder, der Träume und Hoffnungen - und blieb doch in Enge gefangen. Gute Jobs...
...waren keine Selbstverständlichkeit. Der Alltag wurde durch ein Leben vor und neben dem Staate bestimmt - der Bürgerkrieg somit...
...zu Beginn vor allem durch ökonomische Zwänge.
Die religiösen Grabenkämpfe, die Syriens Krieg heute definieren, waren vor den Unruhen nicht spürbar. Schitten, Sunniten, Drusen, Christen oder Alawiten...
...lebten Tür an Tür. Das Bild von Damaskus zeigte sich aus der Ferne vor allem im Graubraun seiner Fassaden. Erst der nahe Blick...
...offenbarte die Farben der Stadt. Damaskus sei die älteste durchgehend bewohnte Stadt der Welt, sagen seine Bewohner. Wahr ist zumindest, dass...
...die Altstadt von Damaskus eine Wiege europäischer Kultur ist: Die Umayyaden-Moschee in ihrem Zentrum war erst römischer Jupitertempel, dann...
...christliches Gotteshaus und wurde schließlich zur Moschee mit ihrem stillen, spiegelnden Marmorboden. Doch auch heute noch...
...vereint die Moschee mehrere Religionen. In ihrem Herzen beten Sunniten, pilgern Schiiten zu einem heiligen Schrein Husseins und finden Christen...
...das Grab von Johannes dem Täufer. Auch Saulus fand, nach seiner Wandlung zum Paulus, der Legende nach in der Damaszener Altstadt Unterschlupf.
Die Altstadt war nicht nur ein dicht gewobenes Netz aller Religion, auch war sie Ruhepol eines hektischen Damaskus - und verwahrte die Traditionen des Landes. Der Souk...
...also der Markt der Altstadt bot alles von religiösen Devotionalien...
...hin zur Bekleidung für die Dame. Weil Syrien nie ein Touristenland wie Ägypten oder Tunesien wurde, war der Souk von Damaskus vor allem eines: authentisch. Der Duft dieser Stadt...
...nährte sich aus einer jahrtausende alten Tradition und einem Stück alltägliches Glück.

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Der Kreisverkehr dient den Dschihadisten als Bühne für ihre blutigen Inszenierungen

Im Stadtkern, unweit der Uhr, schlängeln sich Gassen durch die Altstadt, die von teils noch erhaltenen alten Mauern eingegrenzt wird. Die Häuser, dicht an dicht, schützen im Sommer vor Hitze – und vor dem Lärm in den nachträglich gezogenen Verkehrsachsen. Eine Volkszählung im Jahr 2010 ergab, dass 200.000 Menschen in Raqqa leben. Wie viele es heute sind, wissen nur die Bürokraten des „Islamischen Staates“.

Abu Mohammed ist gebürtiger Raqqawi und dokumentiert unter Lebensgefahr die Verbrechen der Miliz. Der Aktivist wohnt immer noch in Raqqa. Per Skype meldet er sich aber aus einer Stadt in Nordsyrien. Abu Mohammed schreibt für die Internetseite „Raqqa wird lautlos geschlachtet“ – im Arabischen klingt dieser Name poetisch, er hat eine an die Leser appellierende, mahnende Wucht. Ein gutes Dutzend Bürgerjournalisten zählt die ehrenamtliche Redaktion, die nur außerhalb der Hauptstadt des IS ihre Texte verfasst und bearbeitet. Abu Mohammeds Pseudonym steht auf der Todesliste der Terroristen.

„Der Kreisverkehr an der Uhr dient den Dschihadisten als Theaterbühne“, erzählt Abu Mohammed. Immer wenn er zu seiner Familie in Raqqa reist, wenn er die Identitätskontrollen an den Eingängen zur Stadt überstanden hat, kommt er am Obelisken vorbei. Via Skype schickt er den Link zu einem Video. Darin sieht man drei Leichen am Fuße des Obelisken. Ein bärtiger Mann posiert mit seinem Kleinkind vor den toten Feinden. Alltag unter der Herrschaft des IS. „Ein Tagelöhner erhält mittlerweile ein festes Einkommen, fast täglich muss der alte Mann die Leichen der IS-Gegner nach der ,Show’ wegräumen.“ Danach säuberte er den Platz mit Chemikalien und Wasser.

Neulich gab es wieder eine Parade der Dschihadisten mit Panzern und schwarzen Fahnen. Sie ketteten Leichen hinten an ihre Fahrzeuge und schleiften sie durch die Straßen. „Die Panzerketten hinterlassen schwarze Spuren auf dem Asphalt.“ Alle Raqqawis würden so an die ihnen auferlegten Pflichten erinnert.
Der Kulturpalast ist zum Zuchthaus geworden

Aus dem Kulturpalast hätten die Fanatiker ein Zuchthaus gemacht. Das ehemalige Gerichtsgebäude sei nun das „islamische Gericht“. Auch unter Assad habe es dort keine gerechten Urteile gegeben. Neulich wurde Abu Mohammed in den Zeugenstand berufen. Die bärtigen, selbst ernannten Richter hätten sich in den Büros eingerichtet, als wären sie schon immer dort gewesen. Im Gefängnis, in dem früher die Staatssicherheit folterte, täten dies nun die Dschihadisten. „Es hat sich nicht viel im Antlitz der Stadt verändert.“

Eine anonyme Frau hat mit einer versteckten Kamera Aufnahmen in Raqqa gemacht, die man im Internet finden kann. Auf einem Video ist ein Park zu sehen: Eine Familie sitzt auf der Bank, Mutter und Vater tragen eine Kalaschnikow – eine privat organisierte Sittenpolizei. Die bewaffnete Frau kommt der Kamera immer näher, irgendwann sieht man nur noch ihre schwarze Robe im Bild. „Bedecke deine Nase“, sagt sie zu der anonymen Filmemacherin.
Kinder im Syrienkrieg
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Nach einem Luftangriff in Aleppo. Ein kleiner Junge weint völlig aufgelöst. Nach Angaben von Aktivisten wurde der Luftangriff am 14. Februar 2014 von Regierungstruppen durchgeführt.
Ein Mann hält ein Baby im Arm, das nach dem Angriff auf den Ortsteil Masaken Hanano in Aleppo am 14. Februar aus dem Schutt gerettet werden konnte.
Ein weinender Junge hält das Baby im Arm.
Es ist der große Bruder, der die kleine Schwester trägt.
Ein Mann mit einem verletzten Kind.
Ein Mann trägt ein Kind, das bei dem Luftangriff am Rand von Aleppo am 14. Februar verletzt worden ist.
Nach dem Luftangriff vom 14. Februar am Rand von Aleppo: Ein Mann bückt sich zu einem Mädchen, das in einem Rollstuhl sitzt.
Im April 2013, auch in Aleppo: Ein Junge sammelt Plastik- und Metallteile, um sie weiterzuverkaufen.
Die nordsyrische Stadt Aleppo wird seit Kriegsbeginn vor drei Jahren heftig umkämpft. Rebellen und syrische Soldaten gehen mit brutaler Gewalt gegeneinander vor. Opfer sind auch die Kinder. Das Foto wurde im April 2013 gemacht.
Einst eine Handelsmetropole, heute Kriegsschauplatz: Die syrische Stadt Aleppo.
Süßigkeiten nur für andere: Ein Junge in der Stadt Aleppo, versucht Bonbons zu verkaufen.
Schule fällt aus, weil es keine mehr gibt. Ein Kind sitzt am Rande des Schulsportplatzes seiner Schule in Aleppo. Das Foto entstand am 17. April 2013.
Nur noch weg: Millionen Menschen sind in Syrien auf der Flucht oder schon in einem der Auffanglager in den Nachbarländern angekommen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mehr als 136.000 Menschen getötet worden.
Ein Checkpoint der Rebellen im Osten Syriens. Eine Familie flüchtet vor den Kriegswirren.
Das Zuhause gab's einmal. Eine Familie in der Stadt Deir al Zor auf den Trümmern ihrer Heimat. Das Foto entstand am 15. April 2013.
Horror des Krieges: Ein Vater hält den leblosen Körper seines Sohnes im Arm. Das Kind wurde von der syrischen Armee in Aleppo getötet. Der AP-Fotograf Manu Brabo machte das Bild am 3. Oktober 2012 und gewann damit am vergangenen Montag einen Pulitzer-Preis.
Gestohlene Kindheit: Ein Junge verkauft in der ehemaligen Wirtschaftsmetropole Aleppo Zigaretten.
Mitten drin: Kinder und Jugendliche sind Opfer des Krieges - auf vielfältige Art und Weise. das Bild zeigt einen Jungen in Aleppo im April 2013.
Spielplatz? In der Trümmern Aleppos spielen Kinder mit dem, was der Krieg übrig gelassen hat. Das Foto entstand im Frühjahr 2013.

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Selbst rund um den Obelisken herrscht zeitweise Treiben wie eh und je. Dort verkaufen die Händler Obst, Gemüse und Fleisch. Der IS legt die Preise fest. Regelmäßig begutachten die Dschihadisten die Preisschilder und befragen die Kunden, ob jemand zu viel verlange. Enge Jeans gibt es auf dem Markt nicht mehr zu kaufen, auch keine DVDs mit Filmen aus Holly- oder Bollywood. Aphrodisiaka aus Pflanzen und Wurzeln, wie sie eigentlich zu jedem arabischen Souk gehören, schon gar nicht. „Irgendwie geht das Leben weiter“, sagt Abu Mohammed. Die Raqqawis seien Weltmeister darin, sich mit einer höheren Gewalt zu arrangieren, sie hätten jahrzehntelange Erfahrung mit Unterdrückung gesammelt.

Ein Ort, an den sich viele gläubige Raqqawis regelmäßig zurückzogen, war der Schrein des Amar Ben Jasser. Das Grab befindet sich in einem Moscheekomplex mit einer blauen Kuppel und türkisen Mosaiken. Im Marmorboden und in der Fontäne im Hof spiegelt sich das Gebäude. Im Sommer kamen hier auch weniger gläubige Raqqawis zu Besuch, der Abkühlung wegen.
Die Kinder besuchen nun alle Koranschulen

Ben Jasser war ein früher Gefährte des Propheten Mohammed, einer der Ersten, die zum Islam übertraten. Nach dem Tod Mohammeds ließ er sich in Raqqa nieder und schwor dem Imam Ali seine Treue. Deswegen verehren ihn Sunniten und Schiiten gleichermaßen. Der Stadtheilige, so der Glaube vieler Raqqawis, beschütze sie vor dem Bösen und erleichtere das Leben unter der Unterdrückung. Seine „Baraka“, also Segenskraft, gilt als fester Bestandteil von Raqqas Seele.

Doch die spirituelle Verbindung zum Heiligen liegt in Trümmern. Die IS-Terroristen haben den Schrein und alle Wallfahrtsorte in der Nähe wegen angeblicher „Gotteslästerung“ zerbombt. Die Videos der Sprengungen haben sie ins Internet gestellt.

Suaad Nawfel ist eine strenggläubige Muslima aus Raqqa. Vor einem Jahr hat die ehemalige Lehrerin Schutz in den Niederlanden gefunden. Schon damals, erzählt sie, hätten die Dschihadisten versucht, die Stadt einzunehmen. Da gab es den IS in seiner heutigen Form noch gar nicht. „Raqqa liegt strategisch günstig, unweit vom Irak, verfügt über wichtige Wasserressourcen und ergiebige Ölfelder“, erklärt sie. „Es eignet sich sehr gut als logistische Drehscheibe des Terrors.“

Suaad schreibt lieber, als dass sie sich am Telefon oder per Skype unterhält. Sie schickt E-Mails, Nachrichten – und lange Essays über die Sünden der Dschihadisten. Über zwangsverschleierte Mädchen, Menschenhandel mit geraubten Frauen, gekreuzigte Männer, die in der Sonne verdursten. Der IS habe ihren Schwager seit mehr als einem Jahr verschleppt. „Diese Schergen repräsentieren mitnichten den Islam.“ Das seien Verbrecher, so schlimm wie das Regime des „blutigen Baschar al Assad“.

Dann schickt Suaad noch ein Bild von sich. Darauf hält die Frau mit dem violetten Kopftuch ein selbst gemaltes Schild in die Höhe. „In anderen Ländern fallen Regentropfen vom Himmel, in meinem Land Fassbomben“, steht in arabischen Schriftzeichen darauf. Die Luftwaffe Assads flog zu diesem Zeitpunkt gerade wieder „Anti-Terrormissionen“ in Aleppo und um Damaskus, ließ den IS in Raqqa aber gewähren.

Suaad vermisst ihre ehemalige Schule. Die Kinder besuchen nun alle Koranschulen. Dort würden sie als Kämpfer ausgebildet, durchliefen eine Gehirnwäsche – man erzähle ihnen Gruselgeschichten. Vor allem aber sehnt sie sich nach der Gasse, in der sie einst daheim war.
Flüchtlingsdrama im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei
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Vermummte Kämpfer des IS zwingen Flüchtlinge Mitte Juni, vom Grenzübergang bei der türkischen Stadt Akçakale wieder nach Syrien zurückzukehren.
Weitere IS-Kämpfer mit Maschinengewehren.
IS-Kämpfer am Grenzzaun.
Die Menschen, die ihre notwendigste Habe für die Flucht in Säcke gepackt haben, werden nun von den IS-Kämpfern wieder zurückgedrängt.
Tausende syrische Flüchtlinge versammelten sich an jenem Wochenende im türkisch-syrischen Grenzgebiet nahe der Stadt Tal Abyad.
Ein Kind wird in einen Graben, der Bestandteil der Grenzanlage ist, hinabgereicht. Das Mädchen hat auf der Flucht einen Schuh verloren.
Ein Mann mit zwei kleinen Kindern.
Tausende Menschen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, waren im Gebiet rund um die umkämpfte Stadt Tal Abyad auf der Flucht.
Auch ein kleiner Junge wird in den Graben im Bereich um die Grenze gehoben.
Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien waren diese Menschen an der Grenze zur Türkei gestrandet - doch diese ließ sie tagelang nicht legal einreisen. Verzweifelt bitten sie um etwas Wasser.
Syrische Flüchtlinge kommen schließlich durch eine Lücke im Grenzzaun in die Türkei.
Kinder auf der Flucht.
Über die Grenze. In der Türkei fürchten manche bis zu 100.000 Flüchtlinge an einem Tag.
Später kamen dann nach Medienberichten offenbar 2.500 Menschen. Flüchtlinge versuchen hier durch ein Loch im Grenzzaun in die Türkei zu gelangen.
Eine Frau mit Kind.
Ein Mann mit einem Baby. Die Menschen, die über die Grenze kommen, haben zum Teil tagelang bei Temperaturen um die 35 Grad im Grenzgebiet gewartet.
Männer heben ein Baby über den Grenzzaun. Viele hatten nicht dieses Glück. Sie wurden von IS-Terroristen aus dem Grenzgebiet zurückgedrängt.

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Suaad wohnte in der Altstadt, unter einem Dach mit dem Vater, gleich neben einem traditionellen Ofen. Die Nachbarinnen brachten Brot zum Backen dorthin – obwohl sie längst alle Elektro- und Gasöfen besaßen, aus der Türkei importiert. Jeden Nachmittag hockten die Frauen um den Steinofen herum, Suaad stieß am Wochenende dazu. Bei frischem Brot, selbst gemachten Falafel mit Zataar und frischem Minztee lästerten sie über die Nachbarin, die beim Fegen immer die unter dem Orangenbaum spielenden Kinder verscheuchte.

Unter der Woche, wenn Suaad um halb acht zu ihrer Schulklasse aufbrach, kümmerte sich ihr Vater um das warme Brot. „Gott hab ihn selig“, schreibt sie. Er sei vor ihrer Flucht verstorben. „Gut, dass er nun an einem besseren Ort ist.“

Fünf Mal am Tag bringt der „Islamische Staat“ Raqqa zum Stillstand. Immer dann, wenn der Muezzin zum Gebet ruft. Alle Händler schließen ihre Garagenläden und eilen zur Moschee oder zu den öffentlichen Gebetsorten, die es in fast jeder Straße gibt.

Hörte er den Muezzin, versteckte sich Mohammed Saleh immer in Hinterhöfen oder bei Freunden, manchmal blieb er zur Gebetszeit von vornherein zu Hause. Ein Akt des leisen Widerstands. „Ich kann nicht so gut beten, das wäre den Terroristen schnell aufgefallen“, sagt er.
Als der IS die Stadt übernahm, floss Blut den Euphrat hinunter

Saleh bezeichnet sich als Laizist, ja als Atheist. Er stehe für die Philosophie seiner Geburtstadt: Jeder darf so sein, wie er will. „Nicht so wie in Deir ez-Zor“, sagt er. Die beiden mittelsyrischen Städte pflegen von jeher eine Feindschaft. Auf der einen Seite das konservative Deir ez-Zor, auf der anderen das liberale Raqqa, in dem alle ihren Platz hatten, Sunniten ebenso wie Alawiten und Kurden. In der Innenstadt betrieb früher die christliche Gemeinde eines der größten Kulturzentren Syriens.

Mohammed Saleh hat zehn Jahre Stadtentwicklung in Raqqa verpasst. In den 90er Jahren opponierte er gegen das Assad-Regime. Die Staatssicherheit sorgte für einen Schauprozess. Das Verfahren dauerte nicht lange, da saß er hinter Gittern – in jenem Gefängnis, wo heute die Gefangenen der Islamisten auf ihren Tod warten. „Ich kann nicht anders, ich sage, was ich denke.“

Welcher Ort ist typisch für Raqqa? Saleh überlegt ein wenig. Dann entscheidet er sich für die Uferpromenade am Euphrat. Der Fluss sei schon seit jeher die Lebensader der Stadt. Ohne das Wasser gebe es kein Raqqa. Und ohne die Uferpromenade kein Nachtleben. Grelle, flackernde Neonlichter, in Blau, in Rosa, in Gelb, führten die Feierwilligen früher zu den örtlichen Bars und Diskotheken. Salehs Lieblingsbar hieß „Karnak“, aber er ging auch gern ins „Taj“. Das bedeutet Krone, und dort kam auch er sich wie ein König vor. „An der Corniche, entlang des rechten Euphratufers, hat es so viele Etablissements gegeben wie in der Millionenstadt Damaskus“, erinnert er sich.

Im April 2014, kurz nachdem die IS-Miliz die Macht in der Stadt komplett übernahm, floss Blut den Euphrat hinunter. Am Steg, an dem üblicherweise die Kinder ins Wasser springen, töteten die Terroristen hunderte Rebellen, die gegen die Assad-Truppen gekämpft hatten und sich nun dem Kalifat geschlagen geben mussten. Mit Kopfschüssen im Sekundentakt wurden die „Ungläubigen“ niedergestreckt. Ein Stoß beförderte die zuckenden Körper in den Strom des Flusses. Saleh war da noch in Raqqa.

Seit einigen Wochen ist auch er Flüchtling. Mit seiner Familie sitzt er im südtürkischen Gaziantep fest und wartet auf das Ende des Kriegs. Atheist, der er ist, glaubt er noch immer nicht an den Himmel. Doch die Hölle, sagt Saleh, habe er schon gesehen: die Hauptstadt des „Islamischen Staats“.