welt.de, 16.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article148909102/Wer-nicht-zur-Sklavin-taugt-landet-im-Massengrab.html

IS-Verbrechen

Wer nicht zur Sklavin taugt, landet im Massengrab

Nach den Terroranschlägen von Paris hoffen kurdische Kämpfer auf mehr Hilfe aus Europa. Bei ihrer Offensive in Sindschar feiern sie wichtige Erfolge – und finden Beweise für unfassbare Verbrechen. Von Alfred Hackensberger , Sindschar

Von ihnen sind nur noch die Knochen und die Kleider übrig. Seit einem Jahr liegen sie schon unter der Erde. Wie Müll hatte sie die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verscharrt. Es sind insgesamt über 150 jesidische Männer, Frauen und Kinder, die von den Terroristen in zwei abgelegenen Massengräbern entsorgt wurden. In einem davon liegen 80 Frauen im Alter von 40 bis 80 Jahren. Nach Zeugenaussagen wurden sie aussortiert und getötet, weil sie als Sexsklavinnen nicht mehr attraktiv genug waren. Es ist ein neues von so vielen widerwärtigen und perfiden Verbrechen des IS, das jetzt erst nach der Befreiung von Sindschar entdeckt wurde.

Am Freitag war der Jesidenort in der autonomen Kurdenregion (KRG) des Irak im Rahmen einer großangelegten Offensive mit über 7500 Soldaten von der Terrorgruppe zurückerobert worden. "Der Fund dieser Massengräber trübt natürlich unsere Freude über die Befreiung", sagt Major Kassim Simo, der für die Sicherheit Sindschars verantwortlich ist. "Leider ist zu erwarten, dass wir noch mehr dieser schrecklichen Gräber finden."

Ein Büro hat Simo noch nicht. Er leitet und befiehlt von der Straße aus, denn 70 Prozent der Stadt, darunter alle Verwaltungsgebäude, sind zerstört. Das Ausmaß der Verwüstung lässt viele der Bewohner, die zurückkommen, um ihre Häuser zu inspizieren, in Tränen ausbrechen. Alle Geschäfte, Häuser, Wohnungen sind geplündert, die Türen herausgerissen, Dächer eingestürzt. Der Marktplatz ein Trümmerfeld, überall liegen ausgebrannte Autos und Steinbrocken auf den Straßen. "Nein, das hätte ich wirklich nicht erwartet", sagt Omar Kheder, der auf einem Stuhl vor seiner kleinen Villa mit einer Kalaschnikow Wache hält. "Ich habe ja noch Glück gehabt", meint der 61-Jährige. "Mir wurde nur ein Laptop und der Fernseher gestohlen, das Haus ist mehr oder weniger in Ordnung. Aber all die anderen, die nichts mehr haben, das ist wirklich schrecklich."

Frauen wurden als Sexsklaven versteigert

Im August letzten Jahres konnte die IS-Terrorgruppe die Jesidenstadt erobern, da die Peschmerga-Truppen der KRG kampflos abgezogen waren. Zehntausende Menschen mussten Hals über Kopf flüchten. Die meisten davon konnten sich vor den IS-Terroristen (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) nur auf das nahe gelegene Sindschar-Gebirge retten. Andere hatten weniger Glück und wurden, wie die 150 Toten in den Massengräbern, brutal ermordet. Einige Tausend Jesidenfrauen landeten auf den Sklavenmärkten in Mosul und Tal Afar. Sie wurden dort als Sexsklaven für IS-Kämpfer versteigert.

Der Zorn über diese ruchlosen Verbrechen des IS sitzt bei den Jesiden tief. Er löst Rachegefühle aus. Häuser von arabischen Familien werden angezündet, nachdem man sie vorher geplündert hat. "Das ist nur fair", glaubt einer der drei Männer, die einen Kühlschrank und eine Waschmaschine auf einen Kleinlaster hieven. "Die Araber haben uns alles gestohlen, nun nehmen wir ihnen alles weg." Die drei Männer tragen Uniform und gehören zu einer jesidischen Freiwilligeneinheit. "Wir holen uns nur Sachen und vergewaltigen keine Frauen und Mädchen, wie das der IS getan hat", ruft ein anderer der Plünderer aufgebracht.

Der Nachbar einer arabischen Familie findet den Diebstahl auch nur recht und billig. "Sie waren doch IS", meint der Mann, der mit einer Gebetskette in der Hand vor seinem Haus mit zerschossenen Scheiben steht. Er habe seine muslimischen Nachbarn ein Leben lang gekannt und sie seien Freunde gewesen. Aber damit sei es vorbei. "Sie sind Feinde", sagt er. Die Gräben entlang ethnisch-religiöser Linien sind tief aufgerissen. Rache und Vergeltung sind wichtiger als Frieden und Versöhnung.

Die internationale Koalition hat den IS "plattgemacht"

Auf dem Marktplatz im Stadtzentrum ist eine Abteilung der Zervani-Elitetruppe postiert. Sie steht bereit, falls der IS überraschend angreifen sollte. Die Spezialeinheit gilt als eine der besten innerhalb der Peschmerga-Armee. Es sind etwa 50 Soldaten, die zwischen ihren gepanzerten Fahrzeugen und mobilen Flugabwehrgeschützen stehen. Mit verspiegelten Sonnenbrillen, ihren schusssischeren Westen, an denen Handgranaten baumeln und Magazine eingesteckt sind, machen sie einen martialischen Eindruck.

Einer von ihnen ist Ahmed, der zwei Jahre in Kempten gelebt hat. Er ist in Siegerlaune, und mit einer Zigarette im Mund gibt er sich cool. "Der IS hat Angst vor uns und ist beim Angriff davongelaufen." Die Kampfjets der internationalen Koalition hätten die Flüchtigen dann "plattgemacht", berichtet Ahmed zufrieden. Er zeigt auf die dicken Fenster seines gepanzerten Wagen und lacht. Sie sind von Treffern übersät. Ahmed bedankt sich dann überschwänglich für die deutsche Militärhilfe für die KRG. Ganz besonderen Dank gilt den Milan-Raketen, mit denen die Fahrzeuge der Selbstmordattentäter "kinderleicht" ausgeschaltet werden könnten.

Trotzdem hätte er sich wesentlich mehr Hilfe von Deutschland und Europa gewünscht. Denn dann wäre der IS schon längst besiegt. Aber nun werde sein Wunsch ja bald in Erfüllung gehen, meint er augenzwinkernd. Die neuen Attentate von Paris (Link: http://www.welt.de/themen/terroranschlaege-paris/) seien zwar ein trauriger Anlass, aber sie hätten Europa endlich deutlich gemacht, wie gefährlich die Terroristen wirklich sind. "Wir wissen schon lang, dass sie Tiere sind", sagt Ahmed, "unberechenbar, brutal und erbarmungslos." Plötzlich beginnt ein Konvoi von schier endlosen Militärfahrzeugen mit schwerer Artillerie und Flugabwehrgeschützen vorbeizurauschen. Ahmed bekommt über Funk Befehl. "Wir müssen los an die Front", sagt er ernst und steigt in seinen Wagen. Es folgt ein "Tschüs" aus der Fensterluke. Dann winkt Ahmed und lacht, bevor sich sein Wagen in die lange Kolonne einreiht.

Teures Totalversagen der irakischen Armee

Major Simo, der Sicherheitschef von Sindschar, glaubt ebenfalls, dass die Toten von Paris den Krieg gegen den IS positiv verändern werden. "Frankreich und Europa haben keine Wahl, sie müssen etwas tun", meint Simo in seinem großen Wohnzimmer auf der Polizeibasis im Ort Snuni. Die Uniform hat er abgelegt und trägt Trainingshose und T-Shirt. Der Westen könne sich im Kampf gegen den IS nur auf die Kurden verlassen und werde sie deshalb noch mehr unterstützen. Hunderte Millionen Dollar hat Washington in den letzten Jahren für Training und Bewaffnung der irakischen Armee ausgegeben. Aber bisher hat das wenig Früchte getragen, denn die Soldaten sind immer wieder vor dem IS davongelaufen.

Der Adjutant serviert Tee, während Simo auf dem Sofa IS-Dokumente durchsieht, die in Sindschar erbeutet wurden. Es sind Urlaubsscheine von Kämpfern sowie Passfotos für Ausweispapiere. "Die meisten der IS-Leute stammen aus Mosul", erklärt Simo und reicht einige der Urlaubsscheine herum. Die Zettel tragen die Aufschrift "Regierung des Kalifats, nennen Namen, Einheit und Funktion der Kämpfers. "Alle werden digital erfasst, und sollte der Name je wieder auftauchen, werden diese Leute verhaftet", versichert Simo.

Er genießt die Aufgaben eines Siegers. "Die Rückeroberung Sindschars ist ein großer Erfolg der Peschmerga", erklärt der Sicherheitschef. "Die Stadt wurde alleine von ihnen in nur 48 Stunden befreit." Damit sei der Nachschubweg des IS nach Mosul abgeschnitten und der Weg für einen Angriff auf diese Hochburg der Extremisten frei.

Das Resümee des "großen Sieges" klingt gut. Nur gibt es auch eine andere Version der Ereignisse. Die erfährt man in der Basis der jesidischen Miliz YPS. Sie ist der irakische Ableger der Kurdenarmee YPG in Syrien, die dort dieses Jahr in Kooperation mit der US-Luftwaffe dem IS über 10.000 Quadratkilometer Territorium abgenommen hat. "Wir waren am Freitagmorgen um 6 Uhr 30 als Erstes in Sindschar", behauptet Agid Kalari, der sich als YPS-Kommandant vorstellt. Dabei war er bisher als ein prominenter Militärführer der Miliz der kurdischen Arbeiterpartei PKK bekannt. "Dreieinhalb Stunden nach uns kamen erst die Peschmerga in die Stadt." Er wisse nicht, warum die Beteiligung seiner Truppe geleugnet werde. "Wir kämpfen in Sindschar seit einem Jahr gegen den IS und sind nie abgerückt." Die "Verleugnung" hat ihren Grund. Denn die linksgerichtete PKK ist für die KRG-Regierung ein ungeliebter politischer Gegner, dessen Präsenz nur widerwillig geduldet wird.

Hilft Europa, dem IS ein Ende zu bereiten?

"Wenn ich ehrlich bin", erzählt Kalari, "hat es in Sindschar keinen großen Kampf gegeben." Der IS habe sich zurückgezogen. "Die Bombenangriffe der Koalitionsflugzeuge waren sehr effektiv", nennt der Kommandant als Grund. "Es stimmt", erklärt er dann weiter, mit der Einnahme Sindschars sei der Nachschubweg des IS nach Mosul eingeschränkt.

"Aber leider haben die Terroristen längst einen neuen Weg planiert." Und der führe weiter südlich quer durch die Wüste nach Syrien in die Stadt Deressor. "Alles sei nicht so einfach, wie behauptet wird", meint Kalari schmunzelnd. Natürlich werde in Syrien versucht, auch diese Nachschubroute abzuschneiden. Dort läuft seit über zwei Wochen eine Offensive der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Diese Union aus kurdischen, arabischen und christlichen Milizen hat am Wochenende die Grenzstadt al-Hole eingenommen. Damit setzt sie den IS auch von syrischer Seite unter Druck.

Für die IS-Terroristen brechen schlechte Zeiten an. Sie verlieren immer mehr Territorium, und Angriffe auf ihre Hochburgen Rakka und Mosul sind nur noch eine Frage der Zeit. Die Attentate von Paris scheinen diese Entwicklung noch zu beschleunigen. Selbst Kommandant Kalari glaubt an eine größere Unterstützung durch Europa, um dem IS ein Ende zu bereiten. "Wir haben sehr gute Beziehungen zu den USA, Großbritannien und auch Frankreich. Jetzt werden diese Kontakte noch besser, da bin ich mir sicher." Der bescheiden wirkende Kommandant schmunzelt zufrieden und sagt, nun müsse er dringend weg.