junge Welt, 18.11.2015

http://www.jungewelt.de/2015/11-18/007.php

Wahlbetrug beklagt

HDP will Ergebnis von türkischen Parlamentswahlen annullieren lassen

Von Nick Brauns

Am Dienstag haben die Abgeordneten des am 1. November neugewählten türkischen Parlaments in Ankara ihren Eid abgelegt. Einen Tag zuvor hatte die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) verkündet, sie habe einen Antrag auf Annullierung des Ergebnisses bei der obersten Wahlbehörde der Türkei gestellt. Der Wahlkampf habe nicht im Einklang mit dem Prinzip freier und gleicher Wahlen stattgefunden, und die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) habe einen unfairen Vorteil gehabt, argumentierte die Justitiarin der HDP und Abgeordnete Meral Danis Bestas.

Es habe zahlreiche Beeinträchtigungen der HDP-Kampagne durch Gouverneure und die Militärpolizei gegeben, Regierungsvertreter hätten die Aufsichtskomitees manipuliert. In mehreren Provinzen hatte die HDP Mandate nur knapp verfehlt, so in Mersin um 30 und in Tunceli um 168 Stimmen. Die HDP sah sich zudem Angriffen regierungsnaher Rollkommandos ausgesetzt. Aufgrund tagelanger Ausgangssperren im kurdischen Osten des Landes konnte kein freier Wahlkampf stattfinden.

Die unabhängige Organisation Öy ve Ötesi, die mit rund 60.000 Beobachtern die Wahlen überwachte, bezifferte die Unregelmäßigkeiten auf 0,02 Prozent der Stimmen. Nicht berücksichtigt wurden allerdings die Einschränkungen im Vorfeld. Fragen wirft zudem der Anstieg der Zahl an Stimmberechtigten auf, diese vergrößerte sich um rund zwei Millionen von 54,8 Millionen bei den Wahlen im Juni auf 56,9 Millionen im November.

Nach der Aufhebung einer zwölftägigen Ausgangssperre in der Stadt Silvan am Wochenende kehren zahlreiche der rund 20.000 vor den Angriffen von Armee und Polizei geflohenen Bewohner in ihre durch Artilleriebeschuss schwer beschädigten Häuser zurück. Vor ihrem Rückzug hatten Spezialeinheiten der Polizei Schriftzüge an Wänden hinterlassen, in denen sie sich als »Esedullah Tim« (arabisch: Gottes Löwen) bezeichnen – eine Bezeichnung, die die Miliz »Islamischer Staat« in der syrisch-kurdischen Stadt Kobani verwendete. Auf anderen Graffiti heißt es: »Sei stolz, wenn du ein Türke bist. Wenn nicht, dann unterwerfe dich!«

Unterdessen dauerte eine über die Stadt Nusaybin an der türkisch-syrischen Grenze verhängte Ausgangssperre am Dienstag den fünften Tag an. Mindestens zwei Zivilisten kamen dort ums Leben.