junge Welt, 19.11.2015

http://www.jungewelt.de/2015/11-19/073.php

»Einmannsystem« geplant

Nach dem Sieg der AKP bei den Parlamentswahlen wird in der Türkei über eine neue Verfassung gestritten

Von Kevin Hoffmann, Istanbul

Nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen am 7. Juni hat die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ihre Pläne für eine neue Verfassung und die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei zunächst zurückstellen müssen. Doch nach dem deutlichen Sieg bei der Abstimmung am 1. November fühlt sich die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan bestärkt und hat nun die alten Pläne erneut vorgelegt. Dem Land droht die Errichtung einer Präsidialdiktatur mit Erdogan als unangefochtenem Herrscher an der Spitze.

Der Vorschlag der AKP sieht vor, die wichtigsten exekutiven Befugnisse des Ministerpräsidenten auf den Präsidenten zu übertragen. Zur Zeit hat der Staatschef laut Verfassung lediglich eine repräsentative Rolle. Erdogan hält sich bereits jetzt nicht daran. So griff er immer wieder in den Wahlkampf für die von ihm gegründete AKP ein. Außerdem lenkt er die Innen- und Außenpolitik und drängt damit den amtierenden Premierminister Ahmet Davutoglu in den Hintergrund. Seine Gegner halten Erdogan vor, dass er jetzt schon ein autokratisches System aufgebaut habe, die Verfassung breche und die Opposition sowie regierungskritische Medien mit Polizeigewalt mundtot mache.

Am 10. November bestätigte Erdogan erneut seine Pläne in einer Rede zum Todestag von Mustafa Kemal, dem ersten Präsidenten der Türkei: »Die Wahlen am 1. November haben eine vierjährige Periode der Stabilität und Zuversicht für die Türkei eröffnet. Lassen Sie uns diese Zeit nutzen, um Reformen gemäß den Bedürfnissen unseres Landes und unserer Nation durchzuführen, wobei einer neuen Verfassung die höchste Priorität zukommt.« Erdogan sagte zudem, dass alle, die sich dem Willen des Volkes nach einer neuen Verfassung widersetzen, bei den nächsten Wahlen den entsprechenden Preis dafür zahlen würden.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) erklärte zu den jüngsten Vorstößen der AKP, dass man bereit sei, über eine neue Verfassung zu diskutieren, diese müsse jedoch einen freiheitlichen und demokratischen Charakter haben. Außerdem müsse sie dazu beitragen, die kurdische Frage zu lösen.

Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der HDP, sagte, seine Partei lehne das Vorhaben der AKP ab, da es auf ein »Einmannsystem« abziele. An anderer Stelle konkretisierte Demirtas seine Kritik. Es gehe Erdogan darum, ein »Einmanngesetz, eine konstitutionelle Diktatur, welche alle Autorität in seiner Hand konzentriert«, zu etablieren. »Die HDP wäre verrückt, wenn sie dem zustimmte.«

Die zweite Kovorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag, befürchtet, dass »das Präsidialsystem nichts anderes als eine Verfestigung der 92 Jahre alten Republik« bedeute, nur dass es »noch autoritärer und faschistischer« wäre. Die HDP werde alles versuchen, eine solche Verfassung zu verhindern, versicherte Yüksekdag.

Die in der HDP vereinigten Kräfte setzen sich seit langem für eine Aufhebung der 1982 nach dem Militärputsch in Kraft gesetzten und von der Armee geschriebenen Verfassung ein. In einem 2011 vorgestellten Gegenentwurf wird eine grundlegende Demokratisierung der Türkei durch Stärkung lokaler Selbstverwaltung und Gleichberechtigung aller religiösen und ethnischen Gruppen vorgeschlagen. Dies würde den Abbau der zentralistischen Struktur des Staates und einen erheblichen Machtverlust der herrschenden Eliten von AKP und Militär bedeuten.

Der AKP fehlen 50 Abgeordnete für die geplante Verfassungsänderung. Auch für die Ausrufung eines Plebiszit über ein neues Grundgesetz müssten mindestens 13 Abgeordnete anderer Fraktionen das Vorhaben unterstützen. Ob sich jedoch in der Opposition Unterstützer für die Vorschläge der AKP finden werden, ist ungewiss. Denn auch die beiden neben der HDP im Parlament vertretenen Parteien, die sozialdemokratisch-nationalistische CHP und die faschistische MHP, stehen dem von Erdogan angestrebten System ablehnend gegenüber. Die AKP verkündet derweil, ein möglicher Termin für das Referendum sei im Herbst 2016.