welt.de, 19.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article149059337/Tuerkei-bruestet-sich-mit-Erfolg-im-Anti-Terror-Kampf.html

IS-Offensive

Türkei brüstet sich mit "Erfolg" im Anti-Terror-Kampf

Geht die Türkei inzwischen entschlossen gegen den IS vor? Und haben die türkischen Behörden acht IS-Terroristen an der Einreise nach Deutschland gehindert? Beweise dafür gibt es bisher nicht. Von Deniz Yücel

Die türkischen Behörden haben in den vergangenen Tagen Erfolge im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat erzielt. Am Samstag wurden bei einer Razzia in Gaziantep vier Frauen festgenommen, eine fünfte jagte sich dabei in die Luft. Am Sonntag wurden in Ankara sieben Personen verhaftet. Zugleich wurde bekannt, dass der IS während des G-20-Gipfels in Antalya Selbstmordanschläge auf Unterkünfte der Staats- und Regierungschefs sowie auf Hotels und Nachtclubs geplant gehabt habe. Zudem seien Anschläge auf linke, alevitische und jüdische Einrichtungen geplant gewesen, was die Polizei mit mehreren Razzien vereitelt habe. Im Grenzgebiet wurden mehrere Personen bei der illegalen Einreise aus Syrien festgesetzt und ein Mann erschossen.

Am Mittwoch dann die aus deutscher Sicht besonders interessante Meldung: Am Flughafen Istanbul wurden acht marokkanische Staatsbürger unter dem Verdacht auf Mitgliedschaft im IS festgenommen. Bei einem wurde eine Skizze mit einer groben Wegbeschreibung nach Deutschland gefunden. Womöglich wollten sie sich unter die Flüchtlinge mischen.

Die Nachrichten haben nur einen Haken: Es ist kaum zu überprüfen, ob und wieweit sie den Tatsachen entsprechen. Denn zumeist gibt es nur eine Quelle: die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Anadolu untersteht, ebenso wie der Radio- und Fernsehsender TRT, einem der vier stellvertretenden Ministerpräsidenten. Chefredakteur Senol Kazanci war einst der Gründungsvorsitzende des AKP-Jugendverbands von Istanbul und später Berater von Recep Tayyip Erdogan; sein Vorgänger Kemal Öztürk hatte zuvor als Erdogans Presseberater gearbeitet. "Bei innenpolitischen Themen und speziell beim Thema Syrien ist die Redaktionslinie so vorsätzlich regierungsnah, dass wir ebenso gut Pressemitteilungen schreiben könnten", beschrieben im vorigen Jahr die Journalistinnen Kate O'Sullivan und Laura Benitez (Link: http://www.vice.com/en_uk/read/inside-erdogans-propaganda-mouthpiece) ihre Erfahrung im englischsprachigen Dienst von Anadolu.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Anadolu stets die Unwahrheit verbreitet. Aber eine zuverlässige Quelle ist Anadolu eher nicht. Das gilt im hohen Maße für ihre Meldungen zu Sicherheitsthemen. Journalistische Standards wie Quellenprüfung gibt es nicht. Anadolu vermeldet, was die Behörden oder Ministerien ihr sagen, weil Redakteure von Anadolu zuerst Beamte und dann Journalisten sind.

Und auch bei den angeblichen Anschlagsplänen auf den G-20-Gipfel ist Skepsis angebracht. Zwar stammte diese Nachricht von Reuters und AFP. Doch beide Agenturen beriefen sich dabei auf Regierungskreise. Auch diese Angaben lassen sich nicht überprüfen, weil Ermittlungen zum IS hierzulande stets der Geheimhaltung unterliegen.

Derlei Skepsis hat sich die türkische Regierung selber zuzuschreiben. Denn lange Zeit betrachtete die Türkei den IS als Hilfstruppe für ihre Ziele: das Assad-Regime stürzen und den Einfluss der syrisch-kurdischen PYD eindämmen. Noch im Sommer 2014 meinte der heutige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der IS wirke "vielleicht wie eine terrorisierende Organisation", sei aber in Wirklichkeit eine Reaktion aus Wut, während Anadolu schon Fotos von scheinbar glücklichen Kindern (Link: http://www.diken.com.tr/anadolu-ajansi-isid-cok-guzel-gelsenize) aus der IS-Hochburg Rakka verbreitete.

Die Liste der öffentlich bekannt gewordenen Zwischenfälle, die ein schräges Licht auf die türkische Haltung zum IS werfen, ist lang. Eine Liste hat das Institut für Menschenrechte der New Yorker Columbia-Universität (Link: http://www.huffingtonpost.com/david-l-phillips/research-paper-isis-turke_b_6128950.html) dokumentiert, eine andere jüngst das gewerkschaftsnahe türkische Nachrichtenportal Sendika.org. (Link: http://sendika7.org/2015/11/the-love-affair-between-isis-and-the-turkish-jdp-akp-government-the-entire-story-and-evidence)

Zögerlicher Einsatz der Türkei gegen den IS

All dies war so offensichtlich, dass schließlich der internationale Druck auf die Türkei wuchs. Zugleich merkte man in Ankara, dass die Regierung ein anderes Ziel – nämlich die Eindämmung der Kurden – zu verspielen drohte, die für die Amerikaner zum Partner avanciert waren.

Im Sommer dieses Jahres, nach dem Terroranschlag von Suruc, öffnete die Türkei den Luftwaffenstützpunkt Incirlik für die Anti-IS-Koalition. Auch die türkische Luftwaffe beteiligt sich seither an Angriffen auf Stellungen des IS, offiziell zumindest. Tatsächlich sind türkische Flugzeuge seither fast ausschließlich gegen Ziele der PKK im Nordirak geflogen.

Ein weiterer Wendepunkt war der blutigste Terroranschlag der türkischen Geschichte Mitte Oktober in Ankara mit 103 Toten. Erdogan und Davutoglu nutzten diesen Anschlag im Vorfeld der Parlamentswahl, indem sie Opfer direkt oder indirekt beschuldigten (Link: http://www.welt.de/147521424) , während sie sich selber als Garant von Stabilität aufspielten. Zugleich erkannten sie die Chance, sich der internationalen Kritik in Sachen IS zu entledigen: Seht, wir sind selber Opfer.

Doch nicht nur die Rhetorik hat sich geändert. "Dass IS-Verdächtige nicht mehr wie früher bald nach einer Festnahme wieder laufen gelassen werden und sich Schießereien mit den Sicherheitskräften liefern, zeigt, dass die Türkei den IS viel ernsthafter bekämpft", sagt ein türkischer Kenner der Materie, der ungenannt bleiben möchte. Nach dem Anschlag von Ankara sei die Kritik am Versagen der Behörden zu laut geworden; die Beweise dafür, dass man die IS-Zelle von Adiyaman (Link: http://www.welt.de/147779125) lange habe machen lassen, seien zu erdrückend gewesen.

Auch der Terrorfachmann Kemal Göktas von der Zeitung "Cumhuriyet" erkennt eine veränderte Haltung, wenngleich er nicht uneingeschränkt von einer neuen Politik sprechen will. "Es scheint, als würden die Behörden dann gegen den IS vorgehen, wenn dies ihren Interessen entspricht", sagte Göktas der "Welt". Aber ob auch die Kräfte innerhalb des Staatsapparates, die vor dem Anschlag von Ankara die Augen zugedrückt haben, sich künftig anders verhalten, müsse man abwarten.

Und viele Fragen sind weiterhin unbeantwortet: Zum Beispiel, warum sich der IS, der sich sonst gar nicht schnell genug zu Anschlägen bekennen kann, bis heute nicht zu den Anschlägen auf kurdische und linke Oppositionelle in der Türkei bekannt hat.

Unverändert schlecht ist die Informationspolitik der türkischen Regierung. Das gilt auch für die am Istanbuler Flughafen festgenommenen Marokkaner.

Lösung: Terrorverdächtige zurück nach Marokko

Anadolu zufolge hätten sie aufgrund einer "Profil- und Risikoanalyse" der Antiterroreinheit Verdacht erweckt. Noch am Mittwochabend seien sie nach Casablanca zurückgeflogen worden. Was genau Verdacht erweckte, zu welchen Ergebnissen das Verhör kam und ob diese Personen in Marokko den Behörden überstellt wurden – all das ist unklar.

Das Innenministerium ließ eine diesbezügliche Anfrage der "Welt" unbeantwortet, während ein Sprecher der Istanbuler Polizei sagte, er habe Anweisung, zu diesem Thema keine Auskunft zu geben. Er könne auch nicht sagen, von "wie weit oben" diese Anweisung stamme.

So man gewillt ist, zu glauben, dass der IS seine Attentäter als Gruppenreisende verschickt, könnte es also sein, dass die türkische Polizei IS-Terroristen an der Weiterreise nach Deutschland gehindert hat. Es könnte auch sein, dass die Ermittler, einer allgemeinen Polizeipsychologie folgend, in diesen Tagen lieber einmal zu viel als einmal zu wenig verhören. Und es könnte sein, dass die Geschichte von den Behörden mithilfe des Verlautbarungsorgans Anadolu aufgeblasen wurde – um Entschlossenheit im Kampf gegen den IS zu demonstrieren und unterschwellig auf das Thema Grenzsicherung hinzuweisen, setzt die Türkei doch die Flüchtlingskrise spätestens seit dem Merkel-Besuch in Istanbul als politisches Druckmittel ein. Für die Behauptung "Türkei stoppt acht IS-Extremisten mit Ziel Deutschland", wie sie am Mittwoch auch in der "Welt" (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article148984604/Tuerkei-stoppt-acht-IS-Extremisten-mit-Ziel-Deutschland.html%C2%A0) zu lesen war, war es jedenfalls verfrüht. Und vielleicht werden wir nie erfahren, ob es tatsächlich so war.

Hier geht es zum Liveticker zu den Anschlägen in Paris mit allen aktuellen Entwicklungen und Hintergründen (Link: http://www.welt.de/148968896)