Tagesanzeiger, 20.11.2015

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Die kurdische Rebellin

Leyla Zana, die Abgeordnete der HDP, provoziert das türkische Parlament.

Schwor auf das Volk der Türkei und verliess anschliessend den Saal: Die gewählte Leyla Zana. Foto: Burhan Obilici (Keystone)

Bei politisch heiklen Debatten lassen sich türkische Gemüter – oder Gemüter in der Türkei – relativ rasch erhitzen. Diese Woche fand im türkischen Parlament die Vereidigung der am 1. November gewählten Abgeordneten statt. Leyla Zana von der prokurdischen Partei HDP schwor beim Eid nicht – wie im Verfassungstext vorgeschrieben – auf das «türkische Volk», sondern auf das «Volk der Türkei».

Mehrmals forderte sie die Parlamentsvorsitzende der sozialdemokratischen CHP auf, den Eid gemäss dem Verfassungstext zu wiederholen, weil dieser sonst keine Gültigkeit hat. Zana weigerte sich. Und verliess den Saal. Mit dieser Aktion hat sie Öl ins Feuer einer Debatte gegossen, die in der Türkei ein Dauerbrenner ist: das Verhältnis zwischen Kurden und Türken.

Nicht der erste legendäre Auftritt

Zana ist ihren Prinzipien treu geblieben. Vor 24 Jahren rebellierte sie mit der gleichen Strategie. Im Jahr 1991 hatte sie, auch im Parlament, in kurdischer Sprache zu mehr Frieden zwischen Kurden und Türken aufgerufen. Damals war sie noch Mitglied der sozialdemokratischen SHP, Vorläuferin der heutigen CHP. Ihr Auftritt gilt als legendär. Er brach Konventionen, eröffnete den ungewollten Dialog.

Aufgrund dieses Auftritts und ihrer politischen Aktivitäten wurde Zana in den 90er-Jahren zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt – der offizielle Grund lautete «Unterstützung einer terroristischen Organisation». Den Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments konnte sie erst im Jahr 2004 persönlich entgegennehmen. Sie wurde früher aus der Haft entlassen, weil die Türkei bemüht war, einige Auflagen der EU für die Beitrittsverhandlungen zu erfüllen.

Wenn sie nicht wiederholt

Die 54-Jährige stösst sich bei der Formulierung «türkisches Volk» daran, dass sie Minderheiten wie Kurden, Lasen, Armenier oder Griechen nicht gerecht werde, ihnen das «Türkentum» aufzwinge und ihre Ethnie verleugne. Zana wollte erneut ein Zeichen setzen. Doch scheint die Aktion angesichts der Befugnisse, die sie als Abgeordnete nun hätte, überholt. Liberale Journalisten und Anhänger ihrer Partei zeigten sich enttäuscht, dass Zana wieder provozierte, anstatt ihre Anliegen diplomatischer und nachhaltiger einzubringen.

Die Ausdauer dazu hätte Zana. Das Durchsetzungsvermögen auch. Aufgewachsen in einer konservativen kurdischen Familie im Osten der Türkei, lehnte sie sich früh auf gegen die Religion, die Macht der Männer und das Tragen des Kopftuchs. Trotzdem wurde sie als 15-Jährige verheiratet. Es war dann ausgerechnet ihr Mann, ein 20 Jahre älterer kurdischer Aktivist, der sie in die Politik brachte.

«In der Hoffnung auf langfristige Versöhnung», twitterte Zana vor ihrem «falschen» Eid. Ob sie ihn noch einmal ablegen wird, ist offen. Tut sie dies nicht, droht sie ihr frisch gewonnenes Amt als Parlamentarierin zu verlieren.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)