taz, 22.11.2015

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Geflüchtete Kinder in der Türkei

Im Visier der Radikalen

Hunderttausende syrische Kinder in der Türkei gehen nicht zur Schule. Viele hoffen auf die Rückkehr, andere werden von den Schulen abgewiesen.

KAHRAMANMARAş/ISTANBUL taz | Für die meisten Türken ist sie gar nicht als Schule erkennbar. Ziemlich unauffällig steht ihr Name über dem großen Metalltor – auf Arabisch, was die meisten Bewohner von Kahramanmaraş, einer Stadt 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze, ohnehin nicht lesen können. Hinter dem Tor steht das Schulgebäude, ein vierstöckiges Wohnhaus mit einem kleinen Hof. Vor zwei Jahren wurde es umfunktioniert. Aus Wohn- und Schlafzimmern sind Klassenzimmer geworden, in die sich heute fast 500 Kinder drängen.

In Kahramanmaraş leben neben 600.000 Türken rund 100.000 syrische Flüchtlinge, darunter viele Kinder und Jugendliche. Doch die meisten gehen nicht zur Schule, wie auch im Rest der Türkei. Unter den offiziell 2,2 Millionen syrischen Flüchtlingen sind mindestens 650.000 schulpflichtige Kinder. Davon geht nicht mal jedes dritte zur Schule, auf eine staatliche Schule sogar nur jedes zwanzigstes.

Die Zahlen hat die Hilfsorganisation Human Wrights Watch (HRW) vergangene Woche vorgestellt. Im Schnitt, rechneten die AutorInnen aus, haben aus Syrien geflohene Kinder und Jugendliche in der Türkei zwei Schuljahre verpasst. Bei manchen sind es vier Jahre.

Eine Ausnahme bilden die Kinder in den Flüchtlingscamps entlang der syrisch-türkischen Grenze. Von ihnen bekommen fast alle Unterricht. Der Lehrplan gleicht weitgehend dem in Syrien. Türkisch lernen sie in den Campschulen nur, wenn sie es wollen. Von den Kindern hingegen, die allein oder mit ihren Familien über die ganze Türkei verstreut sind, gehen laut HRW-Report lediglich 24 Prozent zur Schule.

„Das ist eine Katastrophe“, schreiben die AutorInnen der Studie. „Hier bahnt sich eine ganze verlorene Generation an.“ Entweder kehrten die Kinder als Kämpfer in den Bürgerkrieg zurück, weil sie sich von islamischen Fundamentalisten anheuern ließen. Oder sie trieben sich auf der Straße herum. Damit blieben sie auch in Zukunft ohne Chance.

Das muss nicht sein. Die türkische Regierung hat vergangenes Jahr beschlossen, dass syrische Kinder staatliche Schulen besuchen dürfen. Sie müssten sich lediglich registrieren lassen. Warum besuchen aber, wie HRW herausfand, dennoch nur 36.600 syrische Kinder türkische Schulen? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Viele Schulen nehmen die syrischen Kinder entgegen der Anweisung aus Ankara nicht auf. Gerade die Schulen in den südlichen Grenzgebieten der Türkei klagen schon lange über zu wenig Lehrer und eine schlechte Ausstattung.

Schichtbetrieb in der Schule

Meist sitzen mindestens 40 Kinder einem Lehrer gegenüber, in vielen Schulen wird im Schichtbetrieb unterrichtet, weil es zu wenige Räume gibt. Wie sollen wir da noch syrische Kinder aufnehmen, fragen die Schulleiter. Werden unsere Kinder nicht vernachlässigt, wenn sich die Schule auch noch um syrische Kinder kümmern soll, sorgen sich türkische Eltern.

Umgekehrt gibt es bei syrischen Eltern große Vorbehalte gegenüber türkischen Schulen. Gegenüber HRW haben syrische Eltern geäußert, ihre Kinder gar nicht auf eine türkische Schule schicken zu wollen. Sie würden schließlich bald zurückgehen. Die Kinder sollten lieber weiter wie zuvor in Syrien unterrichtet werden, damit sie dann nach der Rückkehr nahtlos wieder eine syrische Schule besuchen könnten. Außerdem, gaben die Eltern zu Protokoll, sprächen ihre Kinder kein Türkisch. Von türkischen Kindern würden sie deshalb oft gehänselt oder gemobbt.

Viele syrische Eltern bevorzugen deshalb „vorübergehende Bildungseinrichtungen“, in denen Arabisch gesprochen wird. Also Schulen oder Kurse, die Syrer in Selbsthilfe mit syrischen Lehrern und einem syrischen Curriculum betreiben. Viele sind bei Moscheen und Gebetshäusern eingerichtet. Was dort gelehrt wird, weiß niemand. Auch Charityorganisationen betreiben Schulen. Der Verein Orient for Human Relief, den ein syrischer Geschäftsmann gegründet hat, unterrichtet nach eigenen Angaben mehr als 5.000 syrische Kinder in drei Städten. Die wenigsten Schulen jedoch sind offiziell bei den türkischen Behörden registriert wie die Schule mit dem arabischen Namen am Metalltor in Kahramanmaraş.

Sie dürfen wieder Kind sein

„Die Kinder lieben ihre Schule“, sagt Schulleiterin Sanabl Miranda. Trotz Enge und weniger Unterrichtsmaterialien. Tatsächlich sieht man nur strahlende Gesichter. Die Kinder sind froh, wieder in eine Schule gehen zu können. Sie erzählen ohne Angst von ihren schlimmen Erfahrungen. „Die Schule ist nicht nur für die Vermittlung von Lernstoff wichtig“, meint Miranda, „für die Kinder ist die Schule wie eine Therapie. Sie können hier wieder Kind sein.“

Die Schule in Kahramanmaraş wird von dem Verein Fackeln der Freiheit betrieben, ein Selbsthilfeverein, den syrische Flüchtlinge vor drei Jahren gründeten. Sie mieteten das leer stehende Wohnhaus und engagierten geflüchtete syrische LehrerInnen, die froh waren, wieder unterrichten zu können. Selbst wenn es nur sehr wenig Geld dafür gibt. „Wir leben von Spenden und Geld, das Eltern freiwillig aufbringen“, sagt Frau Miranda. „Schulgeld für die Kinder nehmen wir nicht.“

Damit gehört die Schule zu den Ausnahmen. Viele der selbst organisierten Bildungseinrichtungen verlangen Schulgeld. Die meisten Flüchtlinge aber können sich das nicht leisten. Im Gegenteil, viele Familien sind sogar darauf angewiesen, dass die Kinder arbeiten, damit die Familie überleben kann. Ein Team von HRW hat in Gaziantep eine alleinstehende Mutter mit drei Kindern interviewt, die alle nicht zur Schule gehen. „Sie müssen arbeiten“, sagte die Mutter, „sonst haben wir nichts zu essen.“ Der älteste, Radwan, ist 14, sein jüngerer Bruder 12 und seine Schwester 10 Jahre alt.

Keine Zeit für die Schule

Alle drei arbeiten, die beiden Brüder bekommen 40 Lira und der Woche, die kleine Schwester 30 Lira. Radwan arbeitet von 7.30 Uhr morgens bis 19 Uhr am Abend. Aber er beschwerte sich nicht, weil der Schneider, bei dem er jeden Tag fast 12 Stunden verbringt, ihn gut behandelt und ihm auch etwas beibringt. Für die Schule hat Radwan schon lange keine Zeit mehr.

Filmemacher Kotayba kennt viele solcher Jungen. Der junge Syrer floh selbst erst vor acht Monaten aus Damaskus. In Istanbul schloss er sich der Selbsthilfegruppe Unser Haus an. Der Solidaritätsverein betreibt – wenige hundert Meter von Istanbuls pulsierender Flaniermeile İstiklâl Caddesi entfernt – einen Treffpunkt für syrische Kinder und Jugendliche, die teilweise ohne Familienangehörige in die Türkei geflüchtet sind.

In dem Haus in der Hamalbaşı Straße 21 sind auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der Verein für Solidarität mit Migranten und Asylsuchenden untergebracht. Eine Etage tiefer hat Unser Haus einen Treffpunkt und eine kleine Schule eingerichtet. Hier können syrische Flüchtlinge neben Türkisch auch Englisch oder Französisch lernen. „Die Erasmus-Studenten sind sehr engagiert“, erzählt Kotayba, „es gibt mehr Hilfsangebote als wir überhaupt annehmen können.“ Der Bedarf sei riesig, nur reichten die Räume nicht aus, um mehr Kurse anzubieten.

Fabriken voller syrischer Kinder

Istanbul ist neben den Grenzstädten zu Syrien der Ort, der am meisten Flüchtlinge anzieht. Zwischen 300.000 und 500.000 Syrer leben in der Metropole am Bosporus, zumeist in den armen Vororten am westlichen und östlichen Rand der Stadt.

„Die Istanbuler Textilfabriken sind voll von syrischen Kindern“, sagt Kotayba. In Avcılar, einem der westlichen Vororte in dem viele Textilfabriken stehen, ist in diesem Jahr deshalb auch eine moderne private syrische Schule entstanden, die 1.500 Kinder unterrichtet. Doch die Schule muss Schulgeld verlangen, um sich zu tragen. Das können nur Familien aufbringen, die schon in Syrien Geld hatten und einen Teil ihres Vermögens retten konnten.

Für die anderen bleibt oft nur eine Schule, die von einer religiösen Stiftung betrieben wird und deshalb kostenlos ist. Das beobachtet auch Schulleiterin Miranda in Die Schule in Kahramanmaraş: „Saudi-Arabien und die Golfstaaten geben Geld für Flüchtlingsschulen, in denen Jungen und Mädchen getrennt und neben Mathe und Naturwissenschaften vor allem der Koran gepaukt wird.“ Viele Kinder aus säkularen syrischen Familien, fürchtet Miranda, landen so bei den Islamisten.

Gipfeltreffen mit Ankara

Eine Sorge, die nach den Anschlägen in Paris auch die EU teilen dürfte. Mit drei Milliarden Euro will sie die Türkei in den kommenden zwei Jahren unterstützen, zudem die Visumspflicht für Türken lockern. Im Gegenzug soll die Türkei den Zuzug von Flüchtlingen verringern. Für Ende November ist ein Gipfeltreffen mit Ankara angesetzt. Mit den EU-Geldern, so hoffen die Ehrenamtlichen der Selbsthilfegruppe Unser Haus, könnten türkische Schulen LehrerInnen einstellen, die syrischen Kindern Türkisch beibringen.

Die Voraussetzung dafür, dass sie eine normale Schulausbildung erhalten können. Zudem müsste der türkische Staat syrische Familien, die ihre Kinder zur Schule schicken wollen, finanziell unterstützen. Und schließlich müssten viel mehr selbst verwaltete, säkulare syrische Privatschulen Zuwendungen bekommen. Nur so könne verhindert werden, dass Islamisten die Situation für sich nutzen.

Vor den Folgekosten einer verlorenen Generation warnt auch Human Rights Watch. Die seien nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für EU und Türkei riesig. Hunderttausende junge Menschen ohne jede Perspektive werden entweder nach Syrien zurückkehren und den Bürgerkrieg noch über Jahre am Laufen halten. Oder im Ausland chancenlos bleiben. Und somit empfänglicher für radikale Botschaften.