junge Welt, 24.11.2015

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Angriff auf Erdogan-Gegner

Türkei: Kovorsitzender der prokurdischen HDP entgeht Mordanschlag. Polizei relativiert

Von Nick Brauns

Auf den Kovorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei, Selahattin Demirtas, ist ein Mordanschlag verübt worden. Der Oppositionspolitiker blieb allerdings unverletzt, als am Sonntag abend während einer Fahrt durch die kurdische Metropole Diyarbakir eine Kugel die Heckscheibe seines schusssicheren Wagens traf. Die Hintergründe des Anschlags sind bislang nicht bekannt. Die Polizei erklärte nach einer Untersuchung des Fahrzeuges gar, es handele sich nicht um einen Einschuss, sondern um die Folge eines Schlages mit einem harten Objekt. Demirtas selbst sagte der kurdischen Nachrichtenagentur Firat dagegen, auf der Heckscheibe sei ein »Kugelabdruck« auf Kopfhöhe gefunden worden.

Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hatte den Politiker in den vergangenen Monaten zum Ziel ihrer Hasspropaganda gemacht. Dessen prokurdische HDP hatte durch das Überschreiten der Zehnprozenthürde bei den Parlamentswahlen die Ambitionen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zunichte gemacht, der sich eine Zweidrittelmehrheit für seine AKP erhofft hatte. Damit hätte die Partei die Verfassung ändern und ein Präsidialregime einführen können. AKP-nahe Rollkommandos haben in den vergangenen Monaten Hunderte HDP-Büros angegriffen. Nachdem Soldaten bei einem Gefecht mit der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) getötet worden waren, titelte eine AKP-nahe Tageszeitung: »Mörder« – unter der Schlagzeile war ein Bild von Demirtas zu sehen.

Die HDP hatte bereits im Oktober vor einem Mordanschlag durch Anhänger des »Islamischen Staats« (IS) auf Demirtas gewarnt, nachdem sie entsprechende Warnungen von kurdischen Politikern aus Syrien erhalten hatte. Offenbar unter Polizeibeobachtung agierende und der türkischen Regierung namentlich bekannte Selbstmordattentäter des IS hatten zuvor in Suruc und Ankara 130 linke und kurdische Demonstranten getötet.