FAZ, 23.11.2015

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Grenze zu Syrien

Ankaras Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik?

Die Türkei lasse keine syrischen Flüchtlinge mehr ins Land, behauptet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Verfolgen die Sicherheitskräfte des Landes eine neue Strategie?

Schließt die Türkei ihre Grenzen für Syrer? Ein am Montag veröffentlichter Bericht der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) legt das zumindest nahe. Dessen Kern sind Berichte von mehr als 50 Flüchtlingen, die laut HRW an unterschiedlichen Tagen und Orten gesammelt wurden, aber miteinander übereinstimmende Schilderungen enthalten. Demnach hat die Türkei schon nach dem Anschlag in der türkischen Grenzstadt Suruc, bei dem im Juli mehr als 30 Personen ums Leben kamen, ihre Politik der offenen Tür für Flüchtlinge aus Syrien geändert. Seither kämen zwar weiterhin Flüchtlinge ins Land, jedoch kaum noch über die regulären Grenzübergänge, sondern vor allem mit der Hilfe von „Menschenschmugglern“, die ihren Kunden gegen hohe Bezahlung Wege über unwegsames und deshalb von der türkischen Polizei nur schwer zu überwachendes Gelände in die Türkei weisen.

Türkische Sicherheitskräfte zwängen aufgegriffene Syrer zudem, zu Dutzenden oder Hunderten zurück über die Grenze nach Syrien zu gehen, wird in dem Bericht behauptet. „Die Grenzschließung der Türkei zwingt Schwangere, Alte, Kranke und Verwundete zu einem Spießrutenlauf..., um den Schrecken des syrischen Krieges zu entkommen“, heißt es in dem Bericht, und weiter: „Die Türkei hat Syrer großzügig aufgenommen und ist berechtigt zur genauen Überwachung ihrer Grenzen aus Sicherheitsgründen, sollte Asylsuchende aber nicht in ein Kriegsgebiet zurückzwingen.“

Die Türkei hatte nach dem Massaker von Suruc Pläne zum Bau einer 150 Kilometer langen, zusätzlich mit Stacheldraht gesicherten Mauer veröffentlicht. An einigen Abschnitten der Grenze hatte die türkische Armee bereits vorher Befestigungen errichtet, doch konnten Syrer weiterhin in die Türkei gelangen. Laut HRW müssen die Flüchtlinge inzwischen jedoch bis zu zwölf Stunden dauernde Märsche hinter sich bringen, um die Grenzposten zu umgehen und illegal in die Türkei zu kommen. Dies geschehe vor allem in der Grenzprovinz Hatay.

Russische Luftangriffe in Syrien zwingen Tausende zur Flucht

Auch aus anderen Quellen lässt sich zudem bestätigen, dass der Beginn der russischen Luftangriffe in Syrien, die anders als in von Moskaus Propaganda dargestellt nicht hauptsächlich gegen den „Islamischen Staat“, sondern gegen alle Gegner des syrischen Diktators Assad gerichtet sind, bisher Tausende Syrer zur Flucht bewogen hat. Extreme Armut, der Mangel an Strom und sauberem Trinkwasser sowie der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung werden neben den Bombenangriffen als die wichtigsten Fluchtgründe genannt. Eine von HRW befragte Krankenschwester sagte, durch den Mangel an Ärzten – viele sind selbst geflohen – sei das Personal von Krankenhäusern oft gezwungen, Verwundeten „ein Bein oder einen Arm zu amputieren und zu hoffen, dass der Patient überlebt“. Die schiere Zahl der Verwundeten nach einem Luftangriff mache es unmöglich, allen zu helfen.

Die Türkei beherbergt nach eigenen Angaben mehr als 2,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Da allerdings zur gleichen Zeit mehrere hunderttausend syrische Flüchtlinge in Deutschland, Schweden und in geringerem Maße auch in anderen europäischen Staaten angekommen sind, herrschen Zweifel daran, ob diese Zahl stimmt. Der türkische Migrationsforscher Murat Erdogan sagte dazu im Gespräch mit der F.A.Z.: „In den vergangenen sechs Monaten sind mehr als 600.000 Menschen über die Türkei nach Europa gegangen. Ich bin mir sicher, dass viele Flüchtlinge, die statistisch weiterhin in der Türkei auftauchen, längst in Europa sind.“ Wie viele Flüchtlinge noch als in der Türkei lebend geführt werden, obwohl sie längst in Europa sind, wisse er jedoch nicht, sagte Erdogan und fügte hinzu: „Ich bin mir aber sicher, dass die türkische Regierung es auch nicht weiß.“