FAZ, 24.11.2015 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/abgeschossenes-kampfflugzeug-der-abschuss-und-die-turkmenischen-doerfer-13930215.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 Abgeschossenes Kampfflugzeug Der Abschuss und die turkmenischen Dörfer Es geht den Türken um den Schutz ihres Luftraums – und um noch viel mehr. Auch nach den russischen Bomben auf turkmenische Dörfer in Syrien hatte Ankara mit ernsthaften Konsequenzen gedroht. Moskau hat alle Mahnungen und Warnungen nicht ernst genug genommen. von Christoph Ehrhardt, Beirut und Michael Martens, Athen Am Freitag vergangener Woche veröffentliche das türkische Außenministerium eine Mitteilung, die sich nachträglich wie ein Drehbuch für einen weltpolitischen Krimi liest. Die Türkei habe erfahren, dass russische Flugzeuge „schwere Bombardements gegen turkmenische Dörfer“ in den Siedlungsgebieten der Turkmenen in Nordwestsyrien in unmittelbarer Grenze zur Türkei ausführten, heißt es in der Mitteilung aus Ankara. Daraufhin sei Seine Exzellenz Andrej Karlow, Botschafter der russischen Föderation in Ankara, in das Außenministerium zitiert worden, wo dem Repräsentanten Moskaus deutlich gemacht worden sei, dass Russlands Handlungen in Syrien „nicht dem Kampf gegen den Terrorismus dienen, sondern nur auf die Bombardierung turkmenischer Dörfer hinauslaufen, weshalb diese Taten ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen können.“ Das war die offizielle Mitteilung in einer für diplomatische Verhältnisse schon deutlichen Sprache. Am Wochenende sorgte die amtierende türkische Regierung dafür, ihre Nachricht auf anderen Kanälen noch deutlicher zu machen. Türkische Diplomaten gingen im Gespräch mit Journalisten ins Detail und berichteten, was man Russlands Botschafter (und dessen ebenfalls einbestellten Militärattaché) zu verstehen gegeben habe: Die Türkei habe jedes erdenkliche Recht, sich zur Wehr zu setzen und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, sollten die Angriffe der Russen gegen die Turkmenen in unmittelbarer Nähe der Türkei die Sicherheit der türkischen Grenze bedrohen. Das türkische Militär stehe bereit und man werde nicht zögern, es einzusetzen, hieß es in inoffiziellen Zusammenfassungen der diplomatischen Unterredung. Zudem hätten in den Gegenden, über denen die russischen Kampfflieger ihre Bomben abwürfen, weder der „Islamische Staat“ noch andere Terrorgruppen die Kontrolle. Es handele sich um turkmenische Siedlungsgebiete, und die Türkei, die eine Schutzmacht der Turkmenen sei, werde Angriffen gegen diese Bevölkerungsgruppe nicht tatenlos zusehen. Der türkische Ministerpräsident legte öffentlich nach Schließlich hätten die russischen Bombenangriffe eine neue, bisher innersyrische Flüchtlingswelle ausgelöst und Tausende Menschen dazu veranlasst, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Auch das werde die Türkei, die mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen hat als jedes andere Land der Welt – von Russland gar nicht zu reden – nicht einfach hinnehmen. Der amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der nach dem deutlichen Wahlsieg der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ am 1. November dieser Tagen (wieder) regulär das Amt des Regierungschefs in Ankara übernehmen wird, legte zur Sicherheit am Sonntag noch einmal nach. Keineswegs nur in Hintergrundgesprächen, sondern gleichsam zum Mitschreiben und Zitieren warnte der ehemalige Außenminister und Vordenker der nicht eben aus einer Kette glanzvoller Erfolge bestehenden türkischen Syrienpolitik: „Unsere Sicherheitskräfte sind angewiesen worden, sich gegen jede Entwicklung zur Wehr zu setzen, die die Grenzsicherheit der Türkei bedroht.“ Wenn es einen „Angriff“ gebe, der einen großen Flüchtlingsstrom in die Türkei nach sich ziehen könne, werde man angemessene Maßnahmen „sowohl in Syrien als auch in der Türkei“ ergreifen. Jeder Nichtsyrer, der in Syrien militärisch eingreife, sei ein ausländischer Kämpfer, sagte Davutoglu, ohne jedoch Russland beim Namen zu nennen. Die Türkei werde auch diplomatisch alle nötigen Maßnahmen „zum Schutz unserer (turkmenischen) Brüder und Schwestern“ ergreifen. Als er das ankündigte, kam Davutoglu gerade aus einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrates, an der auch Hulusi Akar, der Generalstabschef der Armee sowie Außenminister Feridun Sinirlioglu und Geheimdienstchef Hakan Fidan teilgenommen hatten. Ob auf dieser Sitzung die Entscheidung getroffen wurde, notfalls einen russischen Kampfflieger abzuschießen, ist nicht bekannt. Aber nach außen hin versuchte es die Türkei zunächst noch mit einem diplomatischen Schritt: Ankara forderte den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einem Schreiben auf, sich mit der Krise zu befassen und dem russischen Treiben Einhalt zu gebieten. Russlands Menschenrechtsverletzungen seien nicht hinnehmbar Die von der Regierungspartei kontrollierte türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete am Montag, sie habe Einsicht in das Schreiben erlangt und referierte dessen Inhalt ausführlich. Die Türkei gebe darin „ernsthafter Sorge“ über (russische) Luftangriffe in Kombination mit Bodenoperationen gegen turkmenische Siedlungen in Nordwestsyrien Ausdruck. In dem Schreiben an die derzeitige britische Sicherheitsratspräsidentschaft war laut Anadolu von „intensivem Flächenbombardement“ die Rede, bei dem vermutlich auch Streubomben eingesetzt worden seien. „Diese bedauernswerten Aktionen gegen Zivilisten können keinesfalls mit dem Vorwand eines Kampfes gegen den Terrorismus gerechtfertigt werden“, da es in der Gegen keine terroristischen Gruppen gebe, heißt es weiter. Die andauernde Verletzung der Menschenrechte (durch Russland) sei nicht hinnehmbar und drohe die Krise weiter zu verschärfen. Zwar war man von der Wirkungslosigkeit dieses Schreibens in Ankara von Beginn an überzeugt, doch für die Choreographie war es wichtig, später sagen zu können, nichts unversucht gelassen zu haben – und das möglichst schnell. Denn aus türkischer Sicht war es ein Spiel gegen die Zeit, das Ankara im prozeduralen Treibsand der Vereinten Nationen nur verlieren konnte. Was nämlich weder in den öffentlichen noch in den halböffentlichen Darlegungen Ankaras zu finden war, sind die tatsächlichen Befürchtungen Ankaras über einen substantiellen regionalen Machtgewinn des syrischen Diktators Assad und seiner Truppen durch die russischen Angriffe gegen die Turkmenen. Nach türkischer Lesart stellen sich die auf den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs zulaufenden Ereignisse der vergangenen Tage nämlich ungefähr so dar: Tagelang bombardiert die russische Luftwaffe von turkmenischen Kampfgruppen kontrollierte lokal wichtige Gebiete und Hügelketten in Nordwestsyrien und ermöglicht so Assad-treuen Truppen den Vormarsch. Damit solle ein Korridor freigekämpft werden von westsyrischen Gebieten unter der Kontrolle Assads bis in die Stadt Idlib, die samt Umgebung von verschiedenen Rebellengruppen gehalten wird. Die Turkmenen sind für die Türken ein willkommenes Gegengewicht zu den syrischen Kurden Dies sei einer der Schritte, mit dem Assad auf doppelte Weise mehr Macht verschafft werden solle: Am Boden in Syrien und am Verhandlungstisch, sollte es zu Verhandlungen tatsächlich kommen. Aus Sicht der türkischen Regierung war das doppelt bedenklich: Zum einen weil es Ankaras ehemaligen Freund und jetzigen Erzfeind Assad stärkt, zum anderen weil es die Turkmenen schwächt. Die Turkmenen wiederum werden auch deshalb von der Türkei gestützt, weil sie im Norden Syriens ein willkommenes Gegengewicht zu den syrischen Kurden bilden, deren regionale Kontrolle über Teile des zerfallenen Staates Ankara mit Blick auf das „Kurdenproblem“ im Südosten des eigenen Landes fürchtet. Die Türkei hatte allen Flüchtlingen ihre Tore geöffnet, die Turkmenen jedoch zumindest rhetorisch immer etwas gleicher als gleich behandelt. Die Turkmenen in Syrien hatten sich früh mehrheitlich dem Kampf gegen das Assad-Regime angeschlossen. In ihren Siedlungsgebieten, vor allem in den Provinzen Latakia und Aleppo, aber auch in Homs und Hama, entstanden in Dörfern und Stadtvierteln lokale turkmenische Brigaden, so die Brigade „Dschabal Turkman“, benannt nach dem von Turkmenen besiedelten Gebirgszug im Nordosten der Provinz Latakia. Politische Vertreter der Minderheit haben sich der oppositionellen Syrischen Nationalen Koalition angeschlossen, und turkmenische Brigaden kämpfen unter dem Banner der Freien Syrischen Armee (FSA) gegen das Assad-Regime und den „Islamischen Staat“. Ein Berater der FSA legt denn auch Wert auf die Feststellung, dass die Turkmenen vor allem patriotische Syrer seien, und dass es keine turkmenischen Brigaden, sondern nur FSA-Brigaden gebe. Wie ein Aktivist aus der Provinz Latakia dieser Zeitung berichtet, soll sich zum Beispiel die dort operierende 2. Küstenbrigade der FSA, die wegen der Unterstützung Ankaras stark sei, vorwiegend aus Turkmenen zusammensetzen. Es handle sich um etwa 1500 Kämpfer. In der zuletzt heftig umkämpften Bergregion im Nordosten der Provinz Latakia, nicht zuletzt im „Dschabal Turkman“, sind die Turkmenen eine wichtige Kraft. Im Nordosten Latakias hat die FSA nach eigenen Angaben den Leichnam eines der beiden Piloten des abgeschossenen russischen Kampfflugzeugs geborgen. Nach dem anderen werde gesucht, sagte ein FSA-Sprecher am Nachmittag. Dortige Aktivisten werfen dem russischen Militär vor, eine Taktik der verbrannten Erde zu verfolgen und dort ganze Gegenden in Schutt und Asche zu legen. Bisher 1700 Turkmenen in die Türkei geflohen Tatsächlich waren die Ereignisse am Dienstag selbst für die Verhältnisse im Zeitalter von Smartphonekriegen unglaublich schnell verlaufen. Kaum waren die Bilder der beiden mit ihren Fallschirmen am Himmel über Syrien schwebenden Piloten in den Netzwerken, kursierte bald darauf schon ein weiteres Video, dass einen der beiden Russen am Boden zeigen soll, blutüberströmt, angeblich getötet von syrischen Kämpfern. Dass russische Soldaten, die in die Hände turkmenischer Freischärler fallen, womöglich nicht nach allen Finessen von Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention behandelt werden würden, damit war nach den Bombardements der vergangenen Tage wohl zu rechnen. Laut unbestätigten türkischen Berichten halten sich in einem innersyrischen Flüchtlingslager wenige Kilometer jenseits der Grenze zur Türkei statt zuletzt 7000 nun mehr als 12.000 Flüchtlinge auf. Der Gouverneur der türkischen Grenzprovinz Hatay, Ercan Topaca, warnte davor, dass bis zu 30.000 Syrer, hauptsächlich Turkmenen, als Folge der Kämpfe in ihrer Heimatregion zur Flucht gezwungen sei könnten. Die für Flüchtlingsnothilfe zuständige Behörde Afad liefert bereits Zelte, Decken und Kleidung nach Syrien. Der Türkische Rote Halbmond teilte mit, bisher seien 1700 turkmenische Flüchtlinge aus der Region an der Grenze zur Türkei angekommen. Auch der Halbmond schickte Hilfsgüter nach Syrien, damit die Binnenvertriebenen dort versorgt werden können, statt in die Türkei zu kommen. Bemerkenswert, wenn auch kaum
bemerkt, waren in diesen Tagen außerdem noch Artikel in einigen regierungsnahen
türkischen Zeitungen darüber, dass viele der grenznahen turkmenischen
Dörfer Syriens ja „eigentlich“ ohnehin zur Türkei gehören sollten, da
sie früher zum Bezirk der (türkischen) Hafenstadt Iskenderun gehört hätten.
Das bedeutet nicht, dass Ankara die Gebiete zu annektieren beabsichtigt.
Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass schon jemand neue Landkarten
für eine regionale Nachkriegsordnung zeichnet. Und sei es nur im Kopf.
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