junge Welt, 27.11.2015

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»Die Türkei muss offen kritisiert werden«

Politische Isolierung überfällig: Die türkische Regierung unterstützt gegen Syrien ­operierende Terrorgruppen. Ein Gespräch mit Alexander S. Neu

Von Markus Bernhardt

Alexander S. Neu (Die Linke) ist Obmann im Verteidigungsausschuss des Bundestages und stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

Am Dienstag wurde ein russisches Kampfjet vom Typ Su-24 von einer F-16 des NATO-Mitglieds Türkei über syrischem Gebiet abgeschossen. Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Angriff als »Stoß in den Rücken durch Helfershelfer von Terroristen«. Hat er recht?

Ja! Die Türkei gehört neben Saudi-Arabien und Katar zu den wichtigsten Unterstützern des »Islamischen Staats«, IS. Zwar bekämpft Ankara den IS ein bisschen, um nach außen zu demonstrieren, dass man etwas tut. Faktisch aber trägt das Regime von Recep Tayyip Erdogan bislang zum Überleben des IS aktiv bei. Auch andere Terrorgruppen werden von der Türkei unterstützt. Beispielsweise eine turkmenische, die im syrisch-türkischen Grenzgebiet aktiv ist. Deren Bekämpfung durch die syrischen Regierungsarmee und vermutlich auch durch die russische Luftwaffe ist der türkischen Regierung ein Dorn im Auge. Nutzt sie doch auch diese Aufständischen für ihre Regime-Change-Ambitionen gegen Präsident Baschar Al-Assad. Insgesamt ist die Heuchelei des Erdogan-Regimes unübertrefflich: Auf der einen Seite beklagt es eine Unterdrückung der turkmenischen Minderheit durch die Regierung Assad. Auf der anderen Seite führt es gegen Teile des eigenen Volkes, nämlich die Kurden, selbst Krieg.

Welche Konsequenzen sollte der Abschuss der Su-24 für das Verhältnis zur Türkei haben?

Die türkische Regierung muss offen kritisiert, ja, wenn erforderlich, auch politisch isoliert werden, wenn sie nicht aufhört, den IS, die Al-Nusra-Front und andere Terrorgruppen zu unterstützen. Leider aber hat der Westen das völkerrechtswidrige Regime-Change-Vorhaben in Syrien immer noch nicht aufgegeben. Auch Deutschland nicht. Daher gibt es eine gewisse Interessenübereinstimmung des Westens mit der Türkei und den Golfdiktaturen. Darüber hinaus liefern sich Deutschland und die EU angesichts der Flüchtlingsherausforderung gerade der Türkei auf schändliche und für die flüchtenden Menschen gefährliche Weise aus.
Halt Deine Presse

Der Westen setzt mit dem proklamierten »Krieg gegen den Terror« den Terror des Krieges unbeirrt fort. Wie ist die Spirale der Gewalt zu stoppen?

Indem man endlich anfängt umzudenken. Hierzu gehört: Stopp der Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten. Keine militärischen Abenteuer mehr. Keine Rüstungslieferungen mehr. Beendigung von Handelsliberalisierungen mit den schwachen Ökonomien, die dadurch noch weiter geschwächt werden und die zu Massenarmut führen. Aber dazu wird sich der Westen nicht durchringen. Es wäre ja ein Paradigmenwechsel westlicher Außen-, Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik. Ein solcher ist nicht zu erwarten – das imperiale Selbstverständnis ist zu dominant. Die internationale Rechtsstaatlichkeit ist und bleibt auf absehbare Zeit eine Illusion.

Bundeskanzlerin Angela Merkel will infolge der Anschläge von Paris bis zu 650 deutsche Soldaten nach Mali entsenden, um die französischen Streitkräfte zu entlasten, und dem »Wunsch« von Paris folgend »Tornado«-Kampfjets für den Krieg in Syrien zur Verfügung stellen. Wie bewerten Sie diese »Solidaritätsbekundung«?

Die Bundesregierung ist und bleibt lernresistent – sowohl in Fragen von »Solidaritäts«äußerungen mit militärischen Implikationen als auch insgesamt in militärischen Fragen. Afghanistan zeigt vieles, vor allem: Es ist leichter, in einen Krieg hineinzugehen, als wieder aus diesem herauszukommen. Nach 14 Jahren Afghanistan-Krieg hören wir immer noch Durchhalteparolen. Die Maxime, »internationale Verantwortung« zu übernehmen, im übrigen ein diplomatischer Code für den Anspruch auf eine Großmachtrolle mit militärischen Mitteln, ist einem immer noch vorherrschenden anachronistischen Denken im doch so hochzivilisierten Westen geschuldet. Der gesellschaftliche Widerstand dagegen muss größer werden. Mit Blick auf Syrien bleibt zu konstatieren: Der Konflikt ist ein »Sumpf« und hat das Potential, dass der bisherige Stellvertreterkrieg in einen militärischen Konflikt der darin involvierten Großmächte ausartet.