Neues Deutschland, 27.11.2015

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Türkei: Regierungskritische Journalisten inhaftiert

Nach Enthüllungen über Ankaras Unterstützung für IS-Miliz / Chefredakteur und Büroleiter der oppositionellen »Cumhüriyet« unter anderem wegen »Spionage« angeklagt / Reporter ohne Grenzen spricht von politischer Verfolgung

Berlin. In der Türkei sind zwei regierungskritische Journalisten wegen Spionage angeklagt und inhaftiert worden. Dem Chefredakteur der oppositionellen Zeitung »Cumhüriyet«, Can Dündar, und seinem Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, werden »Spionage«, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die »Verbreitung von Staatsgeheimnissen« vorgeworfen - weil die Zeitung Fotos von der Durchsuchung eines angeblich für die Dschihadistenmiliz IS (Daesh) in Syrien bestimmten Waffenkonvois des türkischen Geheimdienstes MIT im Januar 2014 veröffentlicht hatte.

Kritiker warfen der türkischen Regierung damals vor, nicht entschieden genug gegen die Dschihadisten vorzugehen oder diese sogar im Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mit Waffen zu unterstützen. Die Zeitung »Cumhüriyet« ist auf striktem Oppositionskurs zum autoritären islamisch-konservativen Regime unter Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der hatte im Mai Anzeige gegen »Cumhüriyet« erstattet. Nach der Veröffentlichung des Berichts zu der angeblichen Waffenlieferung wurden Ende Oktober die Büros von »Cumhüriyet« in Istanbul und Ankara durchsucht. Erdogan wies den Bericht des Blattes entschieden zurück und kündigte an, Dündar werde »einen hohen Preis zahlen«. Der Chefredakteur sagte nun vor Beginn der Gerichtsverhandlung in Istanbul, das Vorgehen der Justiz sei für ihn und seinen Kollegen eine »Ehrenmedaille«.

Der Chef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, schrieb in einer ersten Reaktion auf Twitter: »Wenn nicht diejenigen, die eine Straftat begangen haben, sondern diejenigen, die über die Tat berichten, verhaftet werden, soll niemand sagen: ›In der Türkei ist die Presse frei und die Justiz unabhängig und unparteiisch‹«.

»Cumhüriyet« wurde vergangene Woche von der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen als Medium des Jahres ausgezeichnet. Dündar und Gül würden aus »politischen Gründen verfolgt«, erklärte die Organisation. Dies sei ein weiterer Beleg für das Bestreben der türkischen Staatsführung, »den unabhängigen Journalismus auszulöschen«. Der Regierung in Ankara werden seit Jahren immer wieder Angriffe auf die Pressefreiheit vorgeworfen.

Der Haftbefehl kommt nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel mit der Türkei in Brüssel. Die EU-Staaten wollen am Sonntag mit Ankara einen Aktionsplan zur verstärkten Zusammenarbeit in der politischen Krise im Umgang mit den Flüchtlingen beschließen. Im Gegenzug hatte die EU der Türkei unter anderem eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses in Aussicht gestellt. Der türkische Europa-Minister Volkan Bozkir sagte am Donnerstag nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu, Mitte Dezember solle mit Verhandlungen über den Bereich Wirtschaft und Finanzen begonnen werden. Agenturen/nd