junge Welt, 26.11.2015

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Erdogans Hinterhalt

Russland beschuldigt Türkei, Abschuss des Kampfflugzeuges geplant zu haben, und stationiert Flugabwehrwaffen in Syrien

Von Arnold Schölzel

Moskau geht davon aus, dass die Türkei mit dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges am Dienstag eine internationale Koalition im Antiterrorkampf sabotieren wollte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte am Mittwoch in Moskau: »Wir haben ernsthafte Zweifel daran, dass dies unbeabsichtigt war.« Russland verfüge über genügend Informationen, dass der Abschuss im türkisch-syrischen Grenzgebiet geplant gewesen sei. Er formulierte: »Dies war ganz offensichtlich ein Hinterhalt: Sie warteten, beobachteten und haben einen Vorwand gesucht.«

Der russische Präsident Wladimir Putin bestätigte am Mittwoch bei einem Aufenthalt in der Industriestadt Nischni Tagil im Ural gegenüber Journalisten die Rettung eines der beiden Piloten der abgeschossenen Su-24. Der Soldat befinde sich auf der russischen Basis Hamaimim südlich von Latakia in Syrien, der zweite Pilot sei ums Leben gekommen. Er kündigte zum Schutz der Basis die Verlegung des Flugabwehrraketensystems S-300 dorthin an. Zugleich kritisierte er die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan scharf und erklärte, es handele sich jenseits der Tragödie vom Vortag um ein tieferes Problem: »Wir sehen, und nicht nur wir, die ganze Welt sieht, dass die gegenwärtige türkische Regierung seit vielen Jahren im Innern eine äußerst zielgerichtete Politik der Islamisierung ihres Landes verfolgt.« Der Islam sei eine große Weltreligion, die von Russland gefördert werde. Die »Unterstützung radikaler Richtungen« schaffe aber eine sehr ungünstige Atmosphäre. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte in Moskau, sein Land werde alle militärischen Kontakte mit Ankara vorerst einfrieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich in einer Rede am Mittwoch im Bundestag besorgt: »Durch den Abschuss hat sich die Lage noch einmal verschärft.« Es müsse alles für eine Deeskalation getan werden. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hatte bereits am Dienstag abend in Berlin die Türkei kritisiert. Der Zwischenfall zeige, »dass wir einen Spieler dabeihaben«, der »unkalkulierbar« sei: »Das ist die Türkei und damit nicht die Russen.« US-Präsident Barack Obama unterstützte dagegen die Türkei. In einem Telefonat mit Erdogan erklärte er, sie habe aus Sicht der USA und der NATO das Recht, ihre Souveränität zu verteidigen.

Erdogan kritisierte am Mittwoch erneut russische Luftangriffe in der von der turkmenischen Minderheit besiedelten syrischen Grenzregion, in der der abgeschossene Kampfjet operierte. Er behauptete bei einer Rede in Istanbul: »Wir verteidigen nur unsere Sicherheit und das Recht unseres Volkes.« Er selbst hatte im Juni 2012 nach dem Abschuss eines türkischen Kampfflugzeugs durch syrische Abfangjäger erklärt: »Eine kurzzeitige Grenzverletzung darf niemals Vorwand für einen Angriff sein.« Das Handelsblatt erinnerte am Mittwoch daran, dass der heutige türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu noch im Jahr 2013 behauptete, der IS sei überhaupt »keine Terrororganisation«. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur Firat handelt es sich bei dem »turkmenischen Kommandeur«, der am Dienstag nach dem Abschuss gegenüber Journalisten erklärte, seine Kämpfer hätten die beiden russischen Piloten erschossen, während sie mit Fallschirmen absprangen, um einen bekannten türkischen »Ultranationalisten« aus der anatolischen Stadt Keban.