welt.de, 26.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article149294923/Noch-sticheln-die-selbstverliebten-Autokraten-nur.html

Putin vs. Erdogan

Noch sticheln die selbstverliebten Autokraten nur

Die Türkei müht sich nach dem Abschuss um Entspannung im Verhältnis zu Russland, Putin schießt nur verbal zurück. Aber es kann passieren, dass beide Staaten in Syrien noch stärker aufeinanderprallen. Von Deniz Yücel

Auch wenn der Abschuss eines russischen Bombers durch türkische Kampfflugzeuge zu sehr erheblichen Spannungen zwischen Russland und Türkei geführt hat - ein dritter Weltkrieg wird daraus nicht resultieren. Selbst eine ernsthafte kriegerische Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Russland ist nach jetzigem Stand der Dinge sehr unwahrscheinlich. Man führt nicht einfach Krieg gegen einen Staat mit einer mächtigen Armee, zu dem man obendrein gute wirtschaftliche Beziehungen unterhält, das wissen auch selbstverliebte Autokraten wie Wladimir Putin und Tayyip Erdogan.

Selbst von einer rhetorischen Eskalation kann man nur bedingt reden. Das liegt freilich eher an der türkischen, denn an der russischen Seite. "Russland ist unser Freund. Beziehungen zwischen großen Staaten dürfen nicht Kommunikationspannen zum Opfer fallen", sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Mittwoch. Die Türkei sei lediglich gegen die Verletzung ihres Luftraums vorgegangen. An Spannungen mit Russland sei man nicht interessiert, vielmehr wolle man Beziehungen zu Russland "mit Respekt und Sensibilität" vertiefen. Am Mittwoch wies Ömer Celik, der Sprecher der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Vorwürfe zurück, dass der Abschuss eine gezielte Aktion gegen Russland gewesen sei.

Erdogan, die Friedenstaube

Sogar Staatspräsident Tayyip Erdogan zeigt sich für seine Verhältnisse moderat. Die Türkei sei für "Diplomatie und Dialog", sagte er – freilich ohne sich den Hinweis zu verkneifen, dass die russische Luftwaffe im Nordwesten Syriens nicht gegen den Islamischen Staat vorgehe, der in dieser Region nicht präsent sei, sondern im Einvernehmen mit dem Assad-Regime gegen andere Rebellengruppen, unter anderem gegen die Turkmenen.

Dieser Befund ist nicht einmal falsch. Auf einem anderen Blatt steht freilich, dass die Türkei ihrerseits den Kampf gegen den IS als Vorwand für ihre eigenen Interessen nutzt und weitaus stärker gegen die türkisch-kurdische PKK als gegen den IS vorgeht. Erst Ende Oktober warnte Davutoglu (Link: http://www.welt.de/148278561) die mit der PKK verbündete syrisch-kurdische PYD davor, den Euphrat zu überschreiten und auf die syrische Grenzstadt Dscharabulus vorzurücken. Das sei eine "rote Linie". Dscharabulus aber ist die letzte vom IS gehaltene Stadt an der Grenze zur Türkei. Sehr zurückhaltend formuliert: Die Bekämpfung des IS ist für die Türkei wie für Russland nicht das einzige Ziel ihrer Syrien-Politik.

Mögen die genauen Umstände des Abschusses womöglich nie ganz aufgeklärt werden, spricht einiges dafür, dass die türkische Darstellung im Großen und Ganzen näher an die Tatsachen herankommt als die russische. So behauptet die russische Seite, dass es vor dem Abschuss keine Warnungen gegeben habe, auch der Pilot hatte dies gesagt. Als Antwort darauf veröffentlichte der türkische Generalstab nun Tonaufnahmen (Link: http://www.aa.com.tr/tr/turkiye/genelkurmay-rus-ucagina-yapilan-uyarilarin-ses-kaydini-yayimladi/481350) , die diese Warnungen belegen sollen. Ob die authentisch sind, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber die russische Seite konnte bislang weit weniger Indizien für ihre Darstellung vorlegen.

Im Zweifel hat Ankara immer Recht

Auch diese Kommunikationsstrategie zeigt, dass die Türkei sich im Recht fühlt. Am Mittwochabend beantwortete Davutoglu die bislang offene Frage, wer den Schießbefehl erteilt hatte: Er selber.

Die Türkei hat mit dem Abschuss demonstriert, dass sie ein ernst zu nehmender Staat ist, der sich nicht davor scheut, sich notfalls mit einer Atommacht anzulegen. Die Genugtuung über diese Demonstration spricht aus allen türkischen Stellungnahmen. Aber eben weil die Türkei diesen Punkt gesetzt hat, wäre es töricht, nun eine rhetorische Eskalation zu betreiben.

Wladimir Putin hingegen ist in einer anderen Situation. Als Präsident einer Großmacht kann er nach so einem Vorfall nicht kleinlaut sein und muss zumindest verbal zurückschießen. Aber auch auf russischer Seite war in den vergangenen Tagen nicht nur Poltern zu vernehmen, sondern auch Bekundungen (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article149269888/Putins-Rache-an-Erdogan-wuerde-allen-wehtun.html%C2%A0) , dass man an keinem Wirtschaftsembargo interessiert sei, das beiden Seiten zum Nachteil gereichen würde. Die bisherigen Maßnahmen – die Einfuhr von Hühnerfleisch einzustellen oder türkische Bürger an russischen Flughäfen abzuweisen – sind bloß Sticheleien.

Stille Weltmacht USA

Freilich ist die Gefahr (Link: http://www.welt.de/149269888) , dass dieser nicht zuletzt innenpolitisch motivierte Kraftsprech doch zu einem Handelskrieg führt, noch nicht gebannt – vor allem, wenn sich in nächster Zeit ein vergleichbaren Vorfall wiederholen sollte. Eher könnte es dazu kommen, dass beide Parteien in Syrien, wo Russland direkt und die Türkei indirekt in den Krieg verwickelt sind, noch stärker aufeinanderprallen.

Und womöglich geht es beiden Seiten schon jetzt nicht mehr um den Abschuss, sondern darum, die eigenen Claims auf dem syrischen Schlachtfeld neu abzustecken. In dieser Hinsicht aber ist eine Partei in der Flugzeugkrise merkwürdig abwesend: die USA nämlich.