junge Welt, 28.11.2015

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Erdogans Rache

Türkei: Journalisten wegen »Spionage« und »Verbreitung von Staatsgeheimnissen« ­verhaftet. Grund ist Bericht über Ankaras Unterstützung von Milizen in Syrien

Von Nick Brauns

Wir wurden verhaftet«, twitterte der wohl bekannteste Journalist der Türkei, Can Dündar, am Donnerstag abend. Kurz zuvor hatte ein Gericht in Ankara einen Haftbefehl gegen den Chefredakteur der renommierten Tageszeitung Cumhuriyet sowie gegen den Leiter ihrer Hauptstadtredaktion, Erdem Gül, erlassen. Die Vorwürfe: »Spionage«, »Verbreitung von Staatsgeheimnissen« und »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung«.

Hintergrund für die Anschuldigungen sind Fotos von der Durchsuchung eines Lastwagenkonvois mit angeblichen Hilfsgütern für Syrien, die die Cumhuriyet im Mai dieses Jahres veröffentlicht hatte. Die Aufnahmen stammen aus dem Januar 2014. Als die Militärpolizei die LKW damals in der Nähe von Adana gestoppt hatte, stellte sich heraus, dass diese im Auftrag des Geheimdienstes MIT 2000 Artilleriegranaten und 80.000 Schuss Maschinengewehrmunition für Dschihadistenmilizen wie den »Islamischen Staat« (IS) in Syrien transportierten. Der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan behauptete damals, in den Lastwagen befänden sich Hilfsgüter für syrische Turkmenen. Die von der Cumhuriyet trotz Nachrichtensperre veröffentlichten Dokumente überführten ihn der Lüge. Erdogan erstattete daraufhin persönlich Anzeige, forderte lebenslange Haft für Dündar und drohte in einem Fernsehinterview, dass dieser für seinen »Verrat« einen »hohen Preis« zahlen werde.

»Wir sind weder Verräter oder Spione noch Helden; wir sind Journalisten«, erklärte Dündar vor Beginn der Gerichtsverhandlung am Donnerstag. Er bezeichnete die Anklage als »Ehrenmedaille«. Abgeordnete der kemalistischen und prokurdischen Oppositionsparteien CHP und HDP, Vertreter des Gewerkschaftsbundes DISK sowie prominente Schriftsteller zeigten im Gericht ihre Solidarität mit den Angeklagten.

Die türkische Unterstützung von Terrormilizen in Syrien geht unterdessen weiter. Das berichtete der derzeit in Moskau lebende Nahostexperte Sami Ali in einem von der prokurdischen Nachrichtenagentur Firat veröffentlichten Beitrag. So seien von der AKP unterstützte und in enger Verbindung zur Al-Nusra-Front stehende Milizen der Scheich-Süleyman-Armee und der aus kaukasischen Dschihadisten gebildeten Turkistanisch-Islamischen Partei in Dörfern um die nordsyrischen Städte Asas, Dscharabulus und Aleppo stationiert. Von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gefangengenommene Mitglieder dieser Truppen hätten die Unterstützung und Koordination durch den türkischen Geheimdienst bestätigt. »In der Region von Dscharabulus und insbesondere im Grenzgebiet zur Türkei werden der IS und andere Gruppierungen mit Hilfe aller Art einschließlich militärischer Ausrüstungsgegenstände und logistischer Unterstützung versorgt«, so Ali. Zudem sei dort auf syrischer Seite der Grenze eine Gruppe von rund 400 türkischen Soldaten in Uniformen syrischer Oppositionsgruppen stationiert. Ankara will dort eine »Schutzzone« errichten. Für den Fall, dass YPG-Einheiten auf die vom IS kontrollierte Grenzstadt Dscharabulus vorrücken, hat die Türkei jedoch mit Angriffen gedroht.