welt.de, 27.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article149375617/So-Gott-will-wird-eine-neue-Epoche-beginnen.html

EU-Türkei-Gipfel

"So Gott will, wird eine neue Epoche beginnen"

Vor dem EU-Türkei-Gipfel am Sonntag wird hinter den Kulissen mit harten Bandagen gekämpft. Ob Ankara für Europa die Flüchtlinge zurückhält, hängt ab vom Geld – und vom Kooperationswillen Zyperns. Von Christoph B. Schiltz, Brüssel

Das Dokument hat drei Seiten. Der Titel lautet: "Abschlusserklärung des EU-Türkei-Gipfels". Das eng beschriebene Papier soll die Flüchtlingskrise in Europa beenden. Darauf setzen jedenfalls die Europäer. Sie wollen, dass die Türkei zum neuen Bollwerk gegen Flüchtlinge wird und Migranten aus Afrika künftig von der EU fernhält. Im Gegenzug ist Brüssel bereit, Ankara mit milliardenschweren Finanzhilfen und Zugeständnissen in wichtigen politischen Fragen entgegenzukommen.

Schon am Sonntag, beim ersten Gipfeltreffen zwischen der EU und der Türkei, sollen die seit Jahren festgefahrenen Beitrittsverhandlungen (Link: http://www.welt.de/148697417) neuen Schwung erhalten und die Eröffnung von fünf neuen Verhandlungskapiteln im Dezember und im kommenden Frühjahr vereinbart werden. "So Gott will, wird ab Sonntag eine neue Epoche beginnen", sagte der türkische Europaminister Volkan Bozkir.

Aber noch ist es nicht so weit. Die Regierung Zyperns knüpft nach "Welt"-Informationen ihre Zustimmung zu dem Aktionsplan an Garantien Ankaras zur Lösung des Konflikts um den türkisch besetzten Nordteil des Landes. "Ein Scheitern des gesamten Gipfels ist möglich. Wir verhandeln unter Hochdruck", hieß es am Freitagnachmittag in EU-Kreisen.

Sollte eine Einigung doch noch in letzter Minute gelingen, ist aber schon jetzt klar: Eine Liebesbeziehung wird aus dem neuen Zweckbündnis nicht werden. Das Verhältnis zwischen Ankara und Brüssel gilt seit Jahren als schwierig. In einem bemerkenswerten Fortschrittsbericht (Link: http://www.welt.de/148644604) attestierte die EU-Kommission dem Land am Bosporus kürzlich erneut gravierende Defizite bei der Umsetzung demokratischer Grundrechte.

Die Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu war stinksauer. Auf der anderen Seite ist die Türkei als Nachbarstaat Syriens und als Anrainer der EU-Staaten Griechenland und Bulgarien ein Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Allein 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge leben nach offiziellen Angaben in der Türkei, viele Schutzsuchende reisen aber weiter nach Europa, insbesondere über die Ägäis auf die nahe gelegenen griechischen Inseln.

Allein in den vergangenen sechs Monaten sind zwischen 600.000 und 700.000 Flüchtlinge von der Türkei aus nach Europa gekommen – Ankara hatte im Vorfeld der Parlamentswahlen Anfang November die Schleusen geöffnet und die Grenze nach Griechenland lax kontrolliert. Die Europäer hatten die Botschaft verstanden. "Ob es gefällt oder nicht gefällt – wir müssen mit der Türkei in gemeinsamer Anstrengung zusammenarbeiten", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. "Es ist meine verdammte Pflicht, darüber zu sprechen in der Situation, in der wir jetzt sind", erklärte auch Kanzlerin Angela Merkel.

Der wichtigste Punkt des neuen Türkei-Deals ist aus Sicht der Europäer: Ankara muss die griechisch-türkische Grenze künftig streng kontrollieren und durch eine engmaschige Bewachung der Küsten dafür sorgen, dass möglichst wenige Flüchtlinge das Land am Bosporus in Richtung Europa verlassen. Anfang November hat Ankara in einem "Testlauf", so ein EU-Beamter, gezeigt, dass das funktionieren kann. "Die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge hatte sich in dieser Zeit um rund 75 Prozent reduziert", sagte der Beamte. Neben einer besseren Grenzsicherung fordert die EU von der Türkei auch, die Lebensbedingungen der syrischen Flüchtlinge zu verbessern, Schlepper energisch zu bekämpfen und ein Rückführungsabkommen für irreguläre Migranten aus Drittstaaten möglichst schon 2016 anzuwenden.

Geld gegen Grenzsicherung

Im Gegenzug bieten die Europäer drei Milliarden Euro. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte intern deutlich mehr Geld gefordert, aber auch Schutzzonen in Syrien. Dazu sind die Europäer nicht bereit – noch nicht. Milliardennachforderungen aus Ankara dürften jedenfalls schon bald kommen. Dabei hat die EU bereits jetzt Mühe, den Türkei-Hilfstopf bis Jahresende zu füllen. Die EU-Kommission will allein 500 Millionen Euro schultern. 2,5 Milliarden Euro müssen nach bisherigen Plänen von den Mitgliedsstaaten kommen, 534 Millionen davon aus Deutschland und 410 Millionen aus Großbritannien.

Über den endgültigen Verteilungsschlüssel wird aber noch heftig gerungen. Berlin fordert, dass Brüssel die drei Milliarden Euro allein stemmt. Das Geld würde dann aber bei den Strukturhilfen für mittel- und osteuropäische EU-Länder fehlen. "Der neue Aktionsplan mit der Türkei ist ein wesentlicher Baustein zur Lösung der Flüchtlingskrise. Es darf nicht am Geld scheitern. Deutschland wäre gut beraten, in dieser Frage flexibel zu sein", sagte der Chef der Unionsabgeordneten im EU-Parlament, Herbert Reul (CDU). Das Geld wird in Raten ausgezahlt und soll ausschließlich für Flüchtlingshilfe (Link: http://www.welt.de/149344336) genutzt werden. "Wir werden das sehr genau kontrollieren", hieß es in der EU-Kommission.

Ankara fordert neben Finanzhilfen aber auch neuen Schwung bei den Beitrittsverhandlungen. Noch im Dezember soll ein neues Verhandlungskapitel über Wirtschaft und Währung geöffnet werden. Im kommenden Jahr könnten vier weitere Kapitel folgen, falls der Zypern-Konflikt bis dahin gelöst wird. Auch beim Reiseverkehr in die EU ist Entspannung zu erwarten. Ob die Visumliberalisierung aber schon, wie von Davutoglu gefordert, im Jahr 2016 beginnen wird, ist höchst ungewiss. Brüssel fordert, dass die Türkei alle Bedingungen, beispielsweise biometrische Pässe, erfüllt. Andererseits: Ankara sitzt am längeren Hebel. Die Grenzen nach Europa lassen sich nach Belieben wieder durchlässiger machen. Dann kämen die Europäer erneut unter Druck.