welt.de, 27.11.2015

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Wie Erdogan systematisch die Presse schikaniert

In der Türkei lässt Erdogan Journalisten verhaften, missliebige Medien schikanieren und gegen 30 "Cumhuriyet"-Mitarbeiter ermitteln. Die Meinungs- und Informationsfreiheit ist in akuter Gefahr. Von Deniz Yücel

Der Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar (r.), und sein Büroleiter Erdem Gül. Den Männern wird nach einem Bericht über Waffenlieferungen nach Syrien unter anderem Spionage vorgeworfen
Foto: AP Der Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar (r.), und sein Büroleiter Erdem Gül. Den Männern wird nach einem Bericht über Waffenlieferungen nach Syrien unter anderem Spionage vorgeworfen

Keine 24 Stunden nach der Verhaftung des Chefredakteurs der "Cumhuriyet" musste schon wieder ein Mitarbeiter der Zeitung zum Verhör bei der Staatsanwaltschaft: Der Journalist Alican Uludag wurde unter dem Verdacht vorgeladen, Ermittlungsgeheimnisse veröffentlicht zu haben. Tatsächlich hatte Uludag auf Twitter eine Kopie (Link: http://twitter.com/alicanuludag/status/669879091118645249) der Strafanzeige gegen den "Cumhuriyet"-Chefredakteur Can Dündar geteilt. Ein Geheimnis war es allerdings nicht mehr, das er da öffentlich gemacht hatte. Wer hinter der Strafanzeige gegen Dündar steckte, ist längst bekannt: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan) persönlich.

Ende Mai hatte er Anzeige erstattet (Link: http://www.welt.de/141854755) und dabei den Strafantrag gleich mitgeliefert: einmal lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld, ein weiteres Mal lebenslänglich sowie 42 Jahre Haft. Beim Prozessauftakt am Donnerstag (Link: http://www.welt.de/149328944) wurde Dündar und der mit ihm angeklagte Leiter des "Cumhuriyet"-Büros Ankara, Erdem Gül, verhaftet. Hintergrund der Verhaftungen ist ein von Dündar und Gül verfasster Bericht über angebliche türkische Waffenlieferungen an Dschihadisten in Syrien. Geheimnisverrat lautet der Vorwurf.

Die Verhaftung von Dündar und Gül sowie die Vorladung für Uludag haben eines gemeinsam. In beiden Fällen geht es nicht um missliebige Meinungsäußerungen, sondern um den Wesenskern des Journalismus: um Nachrichten.

Solidarität mit "Cumhuriyet"

Das sieht zumindest Güray Öz so, Autor der "Cumhuriyet" und Mitarbeiter ihres Hauptstadtbüros. "In der Türkei wurden früher schon Journalisten verhaftet und eingesperrt, weil ihre Ansichten nicht der Staatsmacht entsprachen", sagte er im Gespräch mit der "Welt". "Diese Fälle gibt es weiterhin. Aber die Verhaftung meiner Kollegen ist nicht nur ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, sondern auch auf das Informationsrecht der Bürger. Was, wenn nicht Nachrichten, sollen Zeitungen veröffentlichen? Pressemitteilungen der Regierung?" Die Verhaftung ziele darauf, die gesamte kritische Presse einzuschüchtern, darum brauche die "Cumhuriyet" nun "nationale und internationale Solidarität".

Immerhin gab es dies am Freitag: Während der amerikanische Botschafter in Ankara und eine Sprecherin der EU-Kommission in Brüssel die Verhaftungen als "besorgniserregend" kritisierten, versammelten sich Hunderte Menschen vor der Zentrale der Zeitung in Istanbul. Den ganzen Tag über war ein Kommen und Gehen, Oppositionspolitiker, Journalisten anderer Medien und Leser, die kamen, um ihre Solidarität auszudrücken. "Viele in der Redaktion dachten, dass das Verfahren gegen Can Dündar nach der Wahl still eingestellt werden würde", sagte die "Cumhuriyet"-Autorin Pinar Ögünc. "Ich gehörte zu denen, die das nicht gedacht haben. Wer sich so von persönlichen Emotionen leiten lässt wie Erdogan, der vergisst seinen Hass nicht." Die Verhaftung von Erdem Gül hingegen habe alle überrascht.

Die 1924 gegründete "Cumhuriyet" ist die älteste Zeitung des Landes und hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Das Blatt gilt als journalistisch seriös und inhaltlich säkular, sozialdemokratisch und kemalistisch. Die prokurdischen Medien ausgenommen gibt es keine Zeitung in der Türkei, die so viele Mitarbeiter durch politische Morde verloren hat wie die "Cumhuriyet". Zwischen 1978 und 1999 wurden sieben Mitarbeiter von rechtsextremistischen oder islamistischen Attentätern ermordet; die Hintergründe dieser Morde wurden nie aufgeklärt.

30 Verfahren und eine Drohung

Derzeit laufen rund 30 Strafverfahren gegen "Cumhuriyet"-Journalisten, darunter zwei wegen Beleidigung des Staatspräsidenten. Zwei Kolumnisten sind angeklagt, weil sie in ihren Kolumnenspalten Karikaturen aus "Charlie Hebdo" veröffentlicht hatten.

Zu Beginn des Jahrtausends hatte sich die "Cumhuriyet" von ihren linken und liberalen Autoren getrennt und eine kemalistisch-nationalistische Richtung eingeschlagen. Seit dem Gezi-Aufstand vom Frühjahr 2013 und verstärkt seit der 54-jährige Can Dündar Anfang 2015 zum Chefredakteur bestellt wurde, versucht die Zeitung, sich für linke und liberale Leser zu öffnen. Am 24. April dieses Jahres, dem 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern, sorgte sie mit der auf Armenisch und Türkisch gehaltenen Titelzeile "Nie wieder" für große Aufmerksamkeit.

Kurz vor der Wahl Anfang November hatte der AKP-Abgeordnete und vormalige Erdogan-Berater Aydin Ünal (Link: http://www.welt.de/148150650) offen gedroht, wer nach der Quasi-Enteignung (Link: http://www.welt.de/148241735) der Zeitung "Bugün" als Nächstes an der Reihe sei: die "Hürriyet", die säkular-nationalistische "Sözcü", das Gülen-Blatt "Zaman" – und eben die "Cumhuriyet."