Neues Deutschland, 29.11.2015

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AKP-Regime schlägt Gedenken an Tahir Elçi nieder

Sicherheitskräfte gehen gegen Trauerkundgebungen in Istanbul mit Tränengas und Wasserwerfern vor / HDP: Elçis »Ermordung« soll »Kampf für Recht und Gerechtigkeit« treffen

Berlin. Türkische Sicherheitskräfte haben in Istanbul eine Kundgebung gewaltsam aufgelöst, auf der gegen die Tötung des Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elçi, protestiert wurde. Wie AFP-Reporter berichteten, gingen die Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern gegen hunderte Menschen vor, die Elçi mit einer Schweigeminute ehrten und Kritik am AKP-Regime in Ankara äußerten. Unter anderem skandierten sie: »Ihr könnt uns nicht alle töten« und »Der Verbrecherstaat muss Rechenschaft ablegen«. Weitere Gedenkkundgebungen fanden unter anderem in Ankara und Izmir statt.

Die Tötung eines prominenten kurdischen Anwalts durch einen Schuss in den Kopf hat die Spannungen im Südosten der Türkei am Samstag weiter angeheizt. Wie ein im Internet kursierendes Video zeigt, hatte es am Samstag eine Schießerei zwischen in Zivil gekleideten Polizisten und offenbar kurdischen Militanten gegeben. Plötzlich drehen sich die Sicherheitskräfte um, und eröffnen das Feuer in die entgegengesetzte Richtung - laut der kurdischen Nachrichtenagentur Firat zielten sie dorthin, wo Rechtsanwälte gerade eine Pressekonferenz abgehalten hatten.

Kritischer Anwalt in der Türkei erschossen
Offenbar feuerten Polizisten auf Tahir Elçi / Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır hatte Militäroperation kritisiert / Linke und Grüne verurteilen Mord und verlangen Konsequenzen von EU und Berlin

Die linke, prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) sprach von einem »geplanten Mord« und forderte zu Protesten auf. Mit Elçis Ermordung solle der »Kampf für Recht und Gerechtigkeit« getroffen werden. Der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kiliçdaroglu, sagte: »Die Anprangerung von Gewalt sollte nicht mit Mord bestraft werden«. In seiner Presserklärung hatte Elçi kurz vor seinem Tod gesagt: »Wir wollen keine Kämpfe, keine Feuerwaffen an diesem historischen Ort.«

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir nannte die Tat erschütternd. Die Ermordung von Tahir Elçi sei ein »neuer Tiefpunkt« der Entwicklung in dem Land, wo die Spannungen immer weiter zunehmen. »Wie lange wollen EU und Bundesregierung zur Abwärtsspirale in der Türkei noch schweigen«, fragte Özdemir im Kurznachrichtendienst Twitter. Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping sagte, sie sei entsetzt über die Ermordung von Tahir Elçi. »Unter diesen Bedingungen« dürfe am Sonntag nicht der geplante EU-Türkei-Gipfel stattfinden, forderte die Politikerin.

Ein Augenzeuge sagte der Nachrichtenagentur Dogan, ein bärtiger Mann habe das Feuer auf Elçi eröffnet habe. Die Regierung behauptet, bei einer von Elçi abgegebenen Presseerklärung seien die türkischen »Sicherheitskräfte angegriffen worden«, so verlautete der Gouverneur der Provinz Dyarbakir. Unter den Verletzten war nach Angaben aus Sicherheitskreisen auch ein Journalist. Der 49-jährige Elçi hatte sich auf einer Pressekonferenz zum Schutz des vierbeinigen Minaretts, eines Wahrzeichens der Kurdenstadt Dyarbakir, geäußert.

In dem Stadtteil Sur von Diyarbakir, in dem sich die Schießerei abspielte, kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und jungen PKK-Anhängern. Die Behörden verhängten über Sur eine Ausgangssperre. Bei Schießereien wurden dort am Abend zwei kurdische Aktivisten getötet.

Seit Juni waren prokurdische Aktivisten und Linke immer wieder Ziel von Angriffen und Anschlägen. Zuletzt waren im Oktober in Ankara bei einer Friedensdemonstration 103 Menschen durch einen solchen Anschlag getötet worden. Elçi war im Oktober unter dem Vorwurf der »terroristischen Propaganda« für die PKK festgenommen und später gegen Auflagen auf freien Fuß gesetzt worden. Elçi hatte in einer Fernsehdiskussion gesagt, die PKK sei »keine terroristische Organisation«. Agenturen/nd