welt.de, 28.11.2015

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Prominenter kurdischer Rechtsanwalt erschossen

Der prominente Rechtsanwalt Tahir Elci wird auf offener Straße erschossen. Die Hintergründe sind unklar. Die kurdische Opposition spricht von gezieltem Mord und einer "Lynchkampagne" der Regierung. Von Deniz Yücel

Tahir Elci, der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, wurde am Samstag auf offener Straße erschossen. Elci hatte das Viertel Sur in der Altstadt von Diyarbakir besucht, in dem sich in den vergangenen Monaten PKK-Kämpfer verschanzt (Link: http://www.welt.de/146805380) und sich bewaffnete Kämpfe mit Sicherheitskräften geliefert hatten. Im Anschluss an den Besuch, bei dem er eine kulturhistorisch bedeutsame Moschee besichtigte, die vor einigen Tagen von unbekannter Seit beschossen worden war, gab er eine Pressekonferenz.

Kurz nach deren Ende eröffneten Unbekannte das Feuer auf die Menge. Außer Elci wurde ein Polizist tödlich getroffen, ein Polizist und zwei Journalisten wurden verletzt. Auf Aufnahmen einer Nachrichtenagentur vom Tatort sieht man, wie Polizisten in Zivil das Feuer erwidern. Am Ende der Aufnahmen ist zu sehen, wie Elci mit einer Kopfwunde auf dem Boden liegt.

Kurz nach den Schüssen auf den Rechtsanwalt erklärte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sein Bedauern über den Tod von Elci und den des Polizisten. Dieser Vorfall zeige, wie richtig die Entschlossenheit der Türkei im Kampf gegen den Terror sei. "Diesen Kampf werden wir mit derselben Entschlossen fortsetzen", sagte Erdogan.

Spekulation über Scharfschützen

Zur Frage, wer die Schüsse auf die Menge eröffnet hatte, sagte Erdogan nichts. Die Polizeiführung von Diyarbakir erklärte, sie werde sich später zu den Details äußern. Die prokurdische HDP sprach von einem "gezielten Mordanschlag" auf Tahir Elci. Dessen Kollege Baki Demirhan sagte der türkischen Zeitung "Evrensel", dass Elci mit einem einzigen Schuss getötet worden sei, weshalb es sich um einen Scharfschützen gehandelt haben könnte. Lokale Quellen sagten der "Welt", dass es sich bei dem getöteten Polizisten womöglich um Elcis Personenschützer gehandelt haben könnte. Elci hatte nach Morddrohungen gegen ihn unter Personenschutz gestanden.

Einen offenen Tatverdacht spricht noch niemand aus, aber die Richtungen deuten sich bereits an: Die Regierung und die ihr nahestehenden Medien dürften die PKK beschuldigen; die kurdische Opposition dürfte Kräfte innerhalb des Sicherheitsapparates anklagen, womöglich in Zusammenarbeit mit Teilen der Terrormiliz Islamischer Staat. Zuletzt hatten nach dem Terroranschlag von Ankara Oppositionelle den Vorwurf erhoben, Kräfte innerhalb des Sicherheitsapparates könnten mit IS-Leuten gemeinsame Sache machen. Dass in den neunziger Jahren die türkische Hisbollah als Todesschwadronen gegen das Umfeld der PKK genutzt wurden, ist heute erwiesen. In einer ersten Reaktion fragte der Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir über Twitter, wie lange die EU und die Bundesregierung zur "Abwärtsspirale" in der Türkei noch schweigen, wollen fragte Özdemir. Die Ermordung von Tahir Elci sei ein "neuer Tiefpunkt". Am Sonntag werden die Staats- und Regierungschefs der EU mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zum ersten EU-Türkei-Gipfel zusammenkommen.

Streitbarer Anwalt der Menschenrechte

Tahir Elci stammte aus der kurdischen Kleinstadt Cizre und arbeitete seit Anfang der neunziger Jahre als Rechtsanwalt in Diyarbakir. Sein Fachgebiet waren Menschenrechte und Internationales Recht; in einer Vielzahl von Prozessen vertrat er Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Auch die beiden britischen Reporter von "Vice News", die Ende August in Diyarbakir verhaftet wurden (Link: http://www.welt.de/kultur/article145897940/Was-Pressefreiheit-auf-Tuerkisch-bedeutet.html?config=print) sowie deren Zuarbeiter Mohammed Ismael Rasool, der seither im Gefängnis sitzt, waren seine Mandanten. Tahir Elci galt als streitbarer, aber besonnener Mensch.

Mitte Oktober hatte er im Sender CNN Türk an der Talkshow des "Hürriyet"-Kolumnisten Ahmet Hakan teilgenommen, der kurz davor von einem Schlägertrupp angegriffen worden war. (Link: http://www.welt.de/147146934) In dieser Sendung sagte Elci: "Auch wenn manche Aktionen der PKK Terrorcharakter haben, ist die PKK keine Terrororganisation, sondern eine bewaffnete politische Bewegung, deren politischen Forderung eine große Unterstützung in der Bevölkerung genießen."

Ähnliche Äußerungen hatte es auch von Politikern der AKP in der Phase des Waffenstillstands gegeben. Doch in der Atmosphäre der Eskalation, die Recep Tayyip Erdogan und die AKP vor der Parlamentswahl am 1. November schürten, machten die AKP-nahen Medien aus diesem Satz einen Skandal. Gegen Elci wurde unter dem Vorwurf der Werbung für eine terroristische Vereinigung ein Strafverfahren eröffnet, in dem die Staatsanwaltschaft bis zu siebeneinhalb Jahre Haft forderte.

Die prokurdische HDP gab darum der AKP die politische Verantwortung für die Schüsse in Diyarbakir: Tahir Elci sei vonseiten der AKP und ihrer Medien zum Abschuss freigegeben worden, die eine "Lynchkampagne" gegen ihn betrieben hätten. Tahir Elci wurde 49 Jahre alt. Er hinterlässt eine Ehefrau und zwei Kinder. Auf der Pressekonferenz wenige Minuten vor seinem Tod (siehe Video) sagte er: "In diesem Gebiet, das Heimat so vieler Zivilisationen war, wollen wir keine Schüsse, keine Gewalt und keine Operationen."