Neue Zürcher Zeitung, 28.11.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/der-tod-in-der-tiefkuehltruhe-1.18653919

Ausgangssperren in der Osttürkei

Die Tote in der Tiefkühltruhe

Im Kampf gegen den Terror fokussiert sich der türkische Präsident Erdogan nicht auf den Islamischen Staat. Seine «Anti-Terror»-Operationen gelten den Kurden im eigenen Land.

von Franziska Engelhardt, Cizre

An diesem Abend ruft kein Muezzin zum Gebet. Stattdessen schallt über die Lautsprecher der Minarette in Cizre, einer Stadt im Osten der Türkei mit 110 000 Einwohnern, die fast ausschliesslich Kurden sind, ein Befehl: Aus Sicherheitsgründen darf ab 19 Uhr niemand mehr aus dem Haus. Das Militär verkündet eine Ausgangssperre.

Es ist Anfang September, der Befehl kommt aus höchsten Regierungskreisen. Seit Juli geht die Armee nach dem gleichen Muster gegen Kurdenstädte in Ostanatolien vor – bisher über ein Dutzend. Unter ihnen ist Cizre der symbolträchtigste Ort: Die Stadt gilt als Hochburg der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bei den nationalen Wahlen im Juli und bei den vorgezogenen Parlamentswahlen erhielt die pro-kurdische Partei HDP, die Verbindungen zur PKK pflegt, hier über 92 Prozent. Anfang September riefen die Kurden in Cizre die Selbstverwaltung aus. Die Antwort Erdogans kam zwei Tage später – und sie kam mit Gewalt.

Ein Besuch in Cizre zeigt die Wunden, welche der neuntägige Militäreinsatz hinterlassen hat. Häuserzeilen sind mit Kugeln durchsiebt und verlassen, Wände wurden von Panzern niedergewalzt, Stromkästen zerstört. Den Eingang in die Viertel gewähren maskierte Jugendliche an mit Sandsäcken aufgebauten Check-Points nur, weil wir mit Vertretern der HDP unterwegs sind. Wie haben die Einwohner von Cizre den Sturm über ihre Stadt erlebt?
Nach den ersten Tagen der Ausgangssperre haben die Bewohner ihre Wände in Hinterhöfen und Gärten durchbrochen. So entstand ein Tunnelsystem, in welchem sie sich gegenseitig unterstützen konnten, wenn etwa bei einzelnen Familien das Essen ausging.
Die 110'000-Bewohner-Stadt Cizre. Auf dem gegenüberliegenden Berg sind eine überdimensionale Sichel und ein Stern sichtbar. Die Türkei markiert das ganze Jahr hindurch Präsenz.
Das Nur-Quartier in Cizre «sieht aus wie Kobane», sagen die Bewohner des Quartiers, das massive Schäden aufweist. Ganze Wände von Häusern sind abgebrochen, in Häuserzeilen wurde hineingeschossen.
Der Besuch in der Stadt Cizre in der Osttürkei zeigt, wie sich die Militärintervention auf die kurdischen Bewohner auswirkt. Neun Tage eingesperrt in der eigenen Stadt – die meiste Zeit ohne Strom und Wasser. Und ohne zu wissen, wann es vorbei ist. Alle Bilder anzeigen
Mit Pfannendeckel und Löffel

1. Tag: Am 4. September, kurz nach 18 Uhr am Freitagabend, will sich Bürgermeisterin Leyla Imret, eine in Deutschland aufgewachsene 28-Jährige, auf den Weg machen zu ihren Verwandten ausserhalb der Stadt, als sie die Ankündigung der Ausgangssperre hört. Sie erschrickt, als Bürgermeisterin weiss sie nicht, was los ist: «Ich war total nervös und telefonierte mit dem Personal im Rathaus. Sie sagten, maskierte Spezialtrupps hätten die Fenster eingeschlagen und seien ins Rathaus gestürmt.» Imret entscheidet sich, die Stadt nicht zu verlassen, und fährt stattdessen zu Verwandten. Da haben sich bereits drei Familien mit vielen Kindern in einer Wohnung versammelt. Eine halbe Stunde später versagt das Telefonnetz. Das Mobilfunknetz ist tot. Plötzlich wird es dunkel in Cizre, der Strom ist ausgefallen. Gegen halb acht fallen die ersten Schüsse. Erneut schallt der Befehl durch die Lautsprecher. «Die erste Nacht haben wir kaum geschlafen. Es krachte um uns. Wir hörten Granaten und schwere Waffen», erzählt Imret.

2. und 3. Tag: Als es Abend wird, geht die 10-jährige Cemile mit Pfannendeckel und Löffel auf die Strasse. Wie schon am Vorabend schliesst sich das zierliche Mädchen einer Gruppe von Jugendlichen an, um gemeinsam Lärm zu machen. Es hatte geholfen: Je mehr sie gerufen und auf das Metall geschlagen hatten, desto weniger wurde geschossen. Beruhigt hatte sich auch einfach die Gewissheit, in der Dunkelheit nicht alleine zu sein. Cemiles Viertel liegt am Hang, von hier sieht man über die Stadt Cizre, wo sich die Gefechte abspielen – man hört Maschinengewehrsalven und Explosionen. Als das Mädchen zurück in den Garten huscht, fällt ein Schuss. Die Mutter hört Cemile «Mama» rufen, dann fällt ihr Kind zu Boden. Eine Kugel durchbohrt ihr linkes Schulterblatt und bleibt im Herzen stecken. Auf die 51-jährige Mutter wird ebenfalls geschossen, als sie versucht, das Mädchen auf die Seite zu ziehen. Zusammen mit ihrem Mann trägt sie Cemile ins Haus. Aber der Körper hört bald auf zu leben. Während die Mutter ihre Hand hält, stirbt sie. Die Nacht verbringt Emina schluchzend mit ihrer toten Tochter im Arm.
«Cemile ist von einem der Scharfschützen getroffen worden, die sich auf Dächern und Minaretten stationiert haben», sagt die Mutter. Sie haben ihre Tochter Cizîr genannt – der kurdische Name für die Stadt Cezir und Symbol des Widerstands.
«Cemile ist von einem der Scharfschützen getroffen worden, die sich auf Dächern und Minaretten stationiert haben», sagt die Mutter. Sie haben ihre Tochter Cizîr genannt – der kurdische Name für die Stadt Cezir und Symbol des Widerstands. (Bild: Manu Friederich)

Die Mutter hält ein eingerahmtes Bild ihrer Tochter in den Händen, während sie erzählt. Die Familie sitzt in der Stube auf dem Teppich. Der jüngste der drei erwachsenen Söhne giesst Tee in kleine Gläschen auf einem Tablett.

4. Tag: Aus den Leitungen fliesst kein Wasser mehr. Die Bürgermeisterin wäre verantwortlich dafür. «Aber die Sicherheitskräfte verhinderten, dass es Wassernachschub gab. Die Techniker des Rathauses wurden festgenommen», sagt Imret und zeigt auf den Ziehbrunnen im Garten. «Wir haben das Wasser daraus aufgekocht. Aber vom Wasser sind alle krank geworden. Die Kinder kriegten Durchfall. Nur schon der Geruch des Wassers verursachte Brechreiz.»
Ein Baby als Terrorist

Auch das Essen wird knapp. Einzelne Leute treibt der Hunger auf die Strasse auf der Suche nach einer Bäckerei. In den beiden Quartieren Nur und Cudi mit 30 000 Einwohnern sind sie nicht nur geschlossen – einige sind auch beschossen worden. Ein Bäcker sorgt sich um sechs Mitarbeiter, die seit der Ausgangssperre in der Bäckerei eingeschlossen sind. «Sie mussten sich ins obere Stockwerk flüchten, als das Haus beschossen wurde», sagt er. «Meine Frau und ich haben uns Sorgen gemacht, dass sie kein Trinkwasser haben könnten. Als wir versuchten zur Bäckerei zu gehen, drohten die Polizisten, uns zu erschiessen, falls wir weitergehen würden. Wir rannten durch kleine Gassen nach Hause – und gaben acht, dass uns die Scharfschützen auf den Dächern nicht sahen.»

Als Cemiles Eltern versuchen, den toten Körper zur Autopsie auf den Schultern aus dem Haus zu tragen, wird in ihre Richtung geschossen. Sie geben auf. Mutter Emina und eine ihrer Schwestern waschen die tote Cemile. «Ich habe ihre Hände und ihr Haar mit Henna gefärbt, weil sie das so liebte», sagt Emina. Das Mädchen liegt seitlich auf einem weissen Tuch in einem Zimmer im hinteren Hausteil. Eine Foto zeigt ein knopfgrosses Einschussloch auf ihrem nackten Rücken. Ihren Körper wickeln sie in weissen Stoff ein. Ein Nachbar, der Metzger ist, räumt eine Kühltruhe aus und bringt sie ins Haus der Familie. Hinein setzen sie die eingewickelte Tochter. Die Familie sendet eine Foto an die Medien.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird später bestreiten, dass das Bild aus der Türkei stamme. Es sei aus Gaza, sagte er. Wegen des grünen Tuchs auf der Truhe.
Leyla Imret war demselben Schicksal ausgesetzt wie ihre Bürger. «Nie hätte ich gedacht, dass es wieder so schlimm werden könnte wie in den 90er Jahren. Als ich mich entschied, das Amt anzunehmen, waren wir mitten im Friedensprozess. Ich wusste, es ist schwer als Kurde, aber nicht in diesem Ausmass.» Ausreisen kann sie nicht, aus Angst, verhaftet zu werden.
Leyla Imret war demselben Schicksal ausgesetzt wie ihre Bürger. «Nie hätte ich gedacht, dass es wieder so schlimm werden könnte wie in den 90er Jahren. Als ich mich entschied, das Amt anzunehmen, waren wir mitten im Friedensprozess. Ich wusste, es ist schwer als Kurde, aber nicht in diesem Ausmass.» Ausreisen kann sie nicht, aus Angst, verhaftet zu werden. (Bild: Manu Friederich)

5. Tag: Imret ist hilflos. Abgeordnete der HDP wollen sie aus der belagerten Stadt rausholen, aber sie will ihre Bürger nicht alleine lassen. «Vor zwei Jahren habe ich in Deutschland gelebt, in der Nähe von Bremen. Plötzlich ist es, als ob ich in Kobane wäre. In unserer Stadt sollen alle Einwohner Terroristen sein: vom 35 Monate alten Baby bis zum Greis.»

Auch Imret gehört zu den Verdächtigen. Die türkische Staatsanwaltschaft hat gegen sie Ermittlungen wegen «Anstiftung zum Aufstand» und «Propaganda für eine Terrororganisation» eingeleitet. Der Grund ist ein Interview in einem amerikanischen Magazin . Darin sagte sie: «Es gibt ein Sprichwort: ‹Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre, und wenn es einen Krieg gibt, dann beginnt der auch hier.› Und wir können sagen, dass wir in der Türkei einen Bürgerkrieg haben.» Damit wird Imret zum Trending Topic bei Twitter. Regierungsnahe Zeitungen machen mit ihrem Konterfei auf: « Skandalöse Worte von Leyla Imret! », «Landesverräterische Erklärung von Cizre-Bürgermeisterin». Der Shitstorm läuft während der Ausgangssperre. Weil sie wegen des Stromausfalls keinen Zugang zu Medien hat, weiss sie nichts davon. Was sie auch nicht weiss: Sie ist bereits nicht mehr Bürgermeisterin. Der Innenminister hat sie abgesetzt. Eine Nachbarin mit funktionierendem Telefonanschluss erzählt ihr davon.
Die «Anti-Terror»-Einsatzkräfte schossen von gepanzerten Fahrzeugen aus in Häuser. Auch dieses Lampengeschäft kam unter Beschuss. Handybilder, aufgenommen unmittelbar nach der Aufhebung der Ausgangssperre, zeigten einen komplett zerstörten Laden mit zerbrochenen Lampen.
Die «Anti-Terror»-Einsatzkräfte schossen von gepanzerten Fahrzeugen aus in Häuser. Auch dieses Lampengeschäft kam unter Beschuss. Handybilder, aufgenommen unmittelbar nach der Aufhebung der Ausgangssperre, zeigten einen komplett zerstörten Laden mit zerbrochenen Lampen. (Bild: Manu Friederich)
«Sie war mein Lieblingskind»

Seit dem tödlichen Schuss auf Cemile hat sich die Familie in den hinteren Hausteil verlagert, damit sie nicht durch Einschüsse ins Haus getroffen werden kann. 36 Familienmitglieder. Kinder und Enkelkinder. Alle eingepfercht in das Zimmer, in dem Cemiles Leiche einen Tag zuvor präpariert worden war. Die ersten Tage waren die Familienmitglieder absichtlich nicht in denselben Räumen. Zu lebendig noch die Erinnerung an 1992. Die Armee habe damals mit schweren Waffen auf das Haus geschossen. «Eine Bombe tötete sechs Familienmitglieder. Unsere älteste Tochter, Vater, Mutter, meinen Bruder, die Schwägerin und eine Nichte», zählt der 54-jährige Ehemann auf. Und jetzt Cemile.

«Es kann nicht mehr schlimmer werden», sagt der Vater nun in Rage. Die Kühltruhe mit Cemile steht im Haus in einem abgeschlossenen Zimmer, wegen der anderen Kinder. «Ich musste immer wieder kontrollieren, ob die Leiche nicht stinkt, weil es so häufig keinen Strom hatte», sagt der Vater. «Sie war mein Lieblingskind. Sie war klug und wollte studieren. Sie war erst zehn, aber schon so erwachsen.» Cemiles Brüder hören schweigend zu. Einer lenkt sich ab mit dem Handy.

Letzte Tage: Bevor Cemiles Leiche verwest, muss sie weg. Die Ambulanz wird nun auf Drängen hin zum Haus gelassen – und begleitet von einem Panzer zur Autopsie in den Bezirkshauptort Sırnak gefahren. Offenbar, weil die Sicherheitskräfte den Sanitätern nicht trauen. Dann kommt Cemile auf einen Markt, wo in einem Kühlraum für Hähnchen schon sieben andere Leichen gelagert sind. «Es ist so furchtbar, wenn ich heute den Kühlschrank öffne. Dann denke ich immer an Cemile», sagt die Mutter. Am 7. Tag strömt wieder Wasser aus den Leitungen. «Das Personal war mutig und öffnete den Hauptschalter der Wasserversorgung. Für uns war das wie ein Festtag», sagt Imret. «Die Situation war skurril. Wir sassen im Garten zusammen, während in der Stadt weiter geschossen wurde. Wir sagten uns: Wenigsten verbringen wir schöne letzte Tage. In der letzten Nacht hat ein Nachbar sogar die Gitarre geholt. Die Kinder konnten wir irgendwann nicht mehr halten. Sie spielten im Garten.»

Um sieben Uhr morgens des neunten Tages ist die Ausgangssperre vorbei. Zuerst traut sich kaum jemand auf die Strasse. Aber am 13. September gibt es einen Massenauflauf bei der kollektiven Beerdigung der 22 toten Zivilisten. 14 durch Kugeln getötet, die anderen, weil die Ambulanz nicht zu ihnen konnte. Das jüngste Opfer war 35 Monate alt, das älteste 80 Jahre. Die offizielle Türkei hält an der Darstellung fest, dass ausschliesslich PKK-Kämpfer getötet worden seien – 32. Die Organisation trüge den Krieg in die Städte, heisst es. Militante Jugendliche der YDG-H (Bewegung der Revolutionär-Patriotischen Jugend) seien von der PKK ausgebildet. Viele Kurden halten dagegen, dass die Jugendlichen sich zum Selbstschutz organisierten und unabhängig seien.

Im Quartier stopfen Bewohner inzwischen mit Zement Einschusslöcher in ihren Mauern. Und Kinder rennen den Besuchern nach. Eine alte Frau steht in einem Garten, die Wand zur Strasse ist von Granaten zerstört. Sie zweigt ein Röschen von einem Strauch ab und schenkt es den Vorbeigehenden. Die Jugendlichen an den Check-Points machen sich bereit für die Nacht. Vielleicht für den nächsten Angriff.

Im Visier der Justiz

In der türkischen Stadt Nusaybin wurde mit 13 Tagen die bisher längste Ausgangssperre verhängt. Sie wurde am vergangenen Donnerstag wieder aufgehoben. Laut den lokalen Behörden kamen neun Zivilisten ums Leben. Die Türkei spricht von 5 toten Zivilisten und 25 getöteten «Terroristen». In Cizre halten die Strassenschlachten unterdessen an. Am Dienstag wurde erneut über einzelne Stadtviertel eine Ausgangssperre verhängt. Die Familien der Opfer in Cizre klagen beim Staat. Der Menschenrechtsverein IHD, welcher die Sammelklage vertritt, rechnet aber damit, dass das Verfahren vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehe, weil die Türkei von sich aus wohl kaum eine Untersuchung einleiten werde.

Auch die bisherige Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, hat geklagt – gegen ihre Absetzung. Am 18. November kam sie kurzzeitig in Untersuchungshaft, als eine von 23 Bürgermeistern. «Die Gesetze werden momentan willkürlich interpretiert», sagt sie.