welt.de, 29.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article149393436/Wie-Sultan-Erdogan-die-Bundeskanzlerin-vorfuehrt.html

Wie Sultan Erdogan die Bundeskanzlerin vorführt

Der türkische Präsident soll Angela Merkels Flüchtlingspolitik retten. Sie zahlt ihm einen hohen Preis, denn Erdogan sitzt am längeren Hebel - und er ist bereit, das voll auszukosten. Von Robin Alexander

Es ist ein Tag in der zweiten Hälfte des Septembers, als Angela Merkel sich im Kanzleramt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan) verbinden lässt. Der Anruf fällt ihr nicht leicht. Sie hat zuvor einige Tage lang nachgedacht, ob es richtig ist, was sie tun will. Sie hat mit wenigen Beratern gesprochen und danach Wolfgang Schäuble (Link: http://www.welt.de/themen/wolfgang-schaeuble) gefragt, ob der noch eine andere Idee habe. Hatte er angeblich nicht.

Also greift Merkel zum Telefonhörer. Denn Erdogan ist, um es in ihrer Sprache zu sagen, alternativlos. Die Kanzlerin braucht eine Lösung für die Flüchtlingskrise, die nach der Öffnung der Grenzen für syrische Kriegsflüchtlinge (Link: http://www.welt.de/themen/fluechtlinge/) eine nie gekannte Dimension erreicht hat. Und sie glaubt, diese Lösung in der Türkei gefunden zu haben, dem Land, das fast alle Flüchtlinge passieren lässt, die in die EU kommen. Merkel hat noch Donald Tusk informiert, den Ratspräsidenten der EU. Er muss offiziell die Verhandlungen mit der Türkei führen, die Merkel sich ausgedacht hat.

Infolge dieser Verhandlungen, keine zwei Monate nach jenem Telefonat, muss nun ein ganzer Kontinent beschließen, was in Merkels Gespräch mit Erdogan schon im Grundsatz vereinbart wurde. Am Sonntag reisen 28 Staats- und Regierungschefs aus der ganzen EU nach Brüssel, um einen Vertrag mit nur einem einzigen Partnerland abzuschließen, den EU-Türkei-Aktionsplan.

Syrer, Iraker und Afghanen nicht mehr auf die Boote lassen

Der sieht im Kern vor, dass Migranten nicht mehr von der Türkei aus über die Ägäis nach Griechenland übersetzen können, um von dort über den Balkan in die EU und nach Deutschland zu wandern. Arbeitsmöglichkeiten in der Türkei und Schulen für ihre Kinder sollen sie davon abhalten, vor allem aber die türkische Grenzpolizei. Sie soll Syrer, Iraker und Afghanen nicht mehr auf die Boote lassen, mit denen sie auf die griechischen Inseln fahren. Wer es doch schafft, soll anders als heute wieder in die Türkei zurückgebracht werden.

Im Gegenzug bekommt die Türkei Geld – drei Milliarden Euro sind schon jetzt eingeplant – und neuen Schwung für ihre Beitrittsverhandlungen zur EU, die seit Jahren festgefahren sind. Schon 2016 kann Erdogan zudem mit einem Mega-Erfolg rechnen: Gehen die Flüchtlingszahlen tatsächlich zurück, wird die EU Visa-Erleichterungen für Türken gewähren. Sie könnten dann ohne große Prüfungen nach Berlin, Dortmund oder Mannheim reisen. Bisher hat Brüssel dies stets abgelehnt, weil die Türkei wie bei den Beitrittsverhandlungen die Voraussetzungen nicht erfüllte. Aber das ist jetzt egal. Erdogan sitzt am längeren Hebel. Er ist bereit, das voll auszukosten.

Nach Brüssel schickt er seinen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, einen Laufburschen ohne echte Prokura. Vor zwei Wochen beim G-20-Gipfel in Antalya, wo Merkel gern mit Barack Obama oder dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping gesprochen hätte, musste sie stattdessen bei gleich zwei türkischen Politikern vorstellig werden. Sie bekniete erst Davutoglu und anschließend auch noch Erdogan persönlich, mit der EU zu kooperieren. Das tut Letzterer auf seine ganz eigene Art. In den Verhandlungen blaffte Erdogan den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker an, dieser habe als Ministerpräsident doch bloß Luxemburg regiert, das nur "so groß wie eine türkische Stadt" sei.

Heute stellt Erdogan die Bedingungen

Als "Sultan" wird Erdogan in der Türkei wegen seiner gescheiterten neoosmanischen Außenpolitik, aber auch wegen seines immer pompöseren Stils verspottet. Bei früheren Besuchen hat die Kanzlerin immer darauf geachtet, nicht Teil einer solchen Inszenierung zu werden. Vor zwei Jahren etwa traf sie sich demonstrativ mit türkischen Christen, als sie in Ankara war. Jede einzelne Religionsgruppe mussten die Diplomaten, die den Besuch vorbereiteten, den türkischen Gastgebern abringen. Erdogan inszeniert seine Türkei als islamischen Staat, in dem Minderheiten nicht vorkommen. Merkel wertete sie extra auf.

Damals. Heute stellt Erdogan die Bedingungen. Mitte Oktober ließ er die Kanzlerin regelrecht antanzen. Merkel musste zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl nach Istanbul reisen, durfte weder die Opposition noch Minderheiten treffen und wurde von Erdogan regelrecht ausgestellt. Er platzierte sie im Yildiz-Palast auf einem goldenen Thron aus dem 19. Jahrhundert. Zwischen Brokatvorhängen und Marmortischen entstand ein absurdes Bild. "Lieblingsfrau bei Hofe", spotteten die Zeitungen in Deutschland und der Türkei. Merkel aber muss Erdogan loben. "Die Türkei hat mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak eine große Aufgabe zu bewältigen", sagte sie diese Woche im Bundestag.

Erdogan jedoch demütigt Merkel, weil er sich lange von ihr gedemütigt fühlte. Mit ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (Link: http://www.welt.de/themen/gerhard-schroeder) verstand er sich prima und wähnte die Türkei schon halb in der EU. Dann kam Merkel. 2006 lud Erdogan die seltsame Frau auf eine Schifffahrt über den Bosporus ein. Er wollte ihr vor dem Panorama zeigen, dass die Türkei Europa und Asien zugleich ist. Doch sie guckte gar nicht hin, sondern erklärte ihm haarklein, welchen Paragrafen er in welchem Gesetz ändern müsste, damit die Visa-Freiheit für seine Türken irgendwann vielleicht erwogen werden kann.

Absurde Szenen hinter den Kulissen

Politisch steht Erdogan, der die türkische Demokratie in ein straffes Präsidialsystem umbauen will, der Kanzlerin ungefähr so fern wie Putin. Aber den Russen versteht sie, während ihr der Türke fremd ist. Das von Merkels CDU entwickelte Konzept einer "privilegierten Partnerschaft" der Türkei anstelle einer EU-Vollmitgliedschaft wurde in Ankara als Demütigung verstanden. Auch die Bemühungen, die in Deutschland lebenden Türken besser zu integrieren, versteht Erdogan als feindlichen Akt. Merkel erwartet, dass sie Deutsch lernen. Erdogan warnt vor "Assimilierung". 2012 schenkte Merkel ihm eine DVD des Films "Almanya", einer charmanten Komödie über Deutschtürken. Erdogan kommentierte knapp: Wenn Merkel Probleme mit den Türken in Deutschland habe, solle sie ihn einfach anrufen.

Hinter den Kulissen gerieten die bilateralen Gespräche zu absurden Vorhaltungen. Bei einem Besuch vor zwei Jahren etwa sprach Merkel Erdogan darauf an, dass Christen in der Türkei keine Kirchen bauen könnten, weil es für ihre Gemeinden keine Rechtsform gebe. Erdogan antwortete, in Athen sei der Bau einer Moschee verhindert worden, Europa messe also mit zweierlei Maß.

Erdogan zögerte sogar, internationale Hilfe für die in der Türkei angekommenen syrischen Flüchtlinge anzunehmen. Man könne dies allein bewältigen. Davon ist keine Rede mehr. Die Milliarden sind unterwegs, die EU-Beitrittsverhandlungen kommen wieder in Gang, obwohl Erdogan erst jüngst Journalisten verhaften ließ, und die Visa-Erleichterungen sollen schon im nächsten Jahr kommen. Wenn nur weniger Flüchtlinge kommen.