Süddeutsche Zeitung, 02.12.2015 Streit mit Türkei Was an Putins Vorwürfen dran ist Russlands Präsident Wladimir Putin wirft der Türkei eine Komplizenschaft mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vor Der türkische Präsident Erdoğan weist die Vorwürfe zurück. Sollte Russland Beweise vorlegen können, werde er zurücktreten, kündigte er an. Steuern und Schutzgeld sind für den IS inzwischen wichtiger als die Einnahmen aus dem Ölschmuggel. Von Paul-Anton Krüger, Kairo, und Mike Szymanski, Istanbul Die Präsidenten Russlands und der Türkei reden derzeit zwar nicht miteinander - Wladimir Putin hat abgelehnt, seinen Kollegen Recep Tayyip Erdoğan beim Klimagipfel in Paris zu treffen, solange der sich nicht für den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs entschuldigt. Umso lauter reden sie übereinander. Putin warf der Türkei vor,
sie habe die Su-24 vom Himmel geholt, um angebliche Erdöllieferungen der
Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus Syrien zu schützen. Moskau habe
"zusätzliche Informationen", die bestätigten, dass Öl aus Lagerstätten
auf dem Gebiet des Kalifats "in industriellem Maßstab in die Türkei
gebracht" werde, von wo es in Häfen geliefert und mit Tankern weiterverschifft
werde. Erdoğan wies dies, ebenso pathetisch, als Verleumdung zurück. Von
Putin verlangte er, Beweise zu präsentieren - und kündigte gar an, er
werde zurücktreten, falls der Kreml diesen Vorwurf belegen könne. Hätte Putin sich nicht des Effektes Willen zu einer spektakulären Übertreibung hinreißen lassen, würde Erdoğan seine Replik womöglich noch bereuen. Klar ist, dass noch immer Öl und raffinierte Ölprodukte von Syrien über die Grenze in die Türkei gelangen. Doch von industriellem Maßstab kann dabei kaum die Rede sein. Die Erdöl-Infrastruktur des IS, konzentriert um Deir al-Sor im Euphrat-Tal in Syrien, ist seit den Anschlägen in Paris wieder stärker in die Zieloptiken amerikanischer, aber auch russischen Kampfflugzeuge gerückt. Sie bombardierten Tanklaster; die Amerikaner zerstörten nach eigenen Angaben 116, die Russen wollen gar 550 getroffen haben und zeigten sogleich Bilder, die eine Ansammlung von Fahrzeugen nahe der türkischen Grenze zeigen sollen. Nach Schätzungen von Ölhändlern und Ingenieuren, die mit der Financial Times sprachen, produzieren die Ölfelder im IS-Gebiet, es sind etwa ein Dutzend, zwischen 34 000 und 40 000 Barrel à 159 Liter pro Tag. Was der IS nicht für seine Militärmaschinerie braucht, wird direkt an den Quellen an unabhängige Händler weiterverkauft - zu Preisen zwischen 20 und 45 Dollar pro Fass. Damit würde der IS nach wie vor 1,5 Millionen Dollar am Tag umsetzen. Diese Summe hatte das US-Militär vor Beginn der Luftangriffe im September 2014 noch auf das Doppelte taxiert. Größter Abnehmer für das in
improvisierten Anlagen verarbeitete Öl sind die nach UN-Schätzungen acht
Millionen Menschen, die im Gebiet des Kalifats leben. Der IS ist darauf
bedacht, die Versorgung mit Treibstoffen oder Elektrizität zu gewährleisten;
seit dem Sommer muss der IS auch Gebiete in Irak aus den syrischen Quellen
versorgen. Zudem sind Menschen aus Rebellen-Gebieten im Norden und Westen
Syriens darauf angewiesen, beim IS Treibstoff zu kaufen - auch wenn man
gegeneinander kämpft. Denn das Regime schneidet sie von der Versorgung
ab. Syriens Regierung kann dank großer Öllieferungen und Kredite aus Iran den Bedarf über die Raffinerie in der Hafenstadt Baniyas decken - doch auch Syrien kauft beim IS. Im März setzte die EU deshalb sieben Syrer im Dienst des Regimes auf ihre Sanktionslisten, die USA fügten jüngst einen Unternehmer hinzu, der für Assad solche Geschäfte eingefädelt haben soll. Für den IS haben inzwischen Gebühren, Steuern und Schutzgeld, von US-Beamten auf 800 bis 900 Millionen Dollar pro Jahr geschätzt, weit größere Bedeutung. Der Ölschmuggel in die Türkei und durch die Provinz Anbar nach Irak verliert dagegen an Bedeutung: Weltmarktpreise von knapp über 40 Dollar pro Barrel machen das Geschäft kaputt, müssen doch korrupte Grenzer und Soldaten an Kontrollpunkten bestochen werden, um mit Öl aus dem Kalifat durchzukommen. In dessen Gebiet wiederum sind die Sprit-Preise sprunghaft gestiegen seit dem neuen Bombardement. Der Winter steht bevor. Damit wächst die Nachfrage. Viele Menschen, die es sich nicht ausgesucht haben, unter der Knute des IS zu leben, müssen befürchten, dass sie bald frieren und keinen Strom mehr haben werden. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/streit-mit-tuerkei-was-an-putins-vorwuerfen-dran-ist-1.2762519
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