Süddeutsche Zeitung, 03.12.2015

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Was Deutschland und die Türkei im Krieg verbindet

Die EU wurde immer ablehnender, die Türkei immer autoritärer. Doch plötzlich eint der Kampf gegen den IS die beiden.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Bis heute hat das Wort "Waffenbruder" für viele Türken einen besonderen Klang, es hört sich an wie: Kaiser Wilhelm und preußischer Drill. In der deutschen Erinnerung dagegen ist weit weniger präsent, dass Osmanen und Deutsche vor 100 Jahren schon einmal nebeneinander in denselben Schützengräben lagen. Das blüht deutschen Soldaten nun nicht, auf dem Luftwaffenstützpunkt İncirlik in der Südtürkei werden sie mit Türken, Amerikanern und Franzosen allenfalls das Offizierskasino teilen.

Berlin und Ankara verbindet aber auch, dass sie das, was sie jetzt tun, nicht "Krieg" nennen wollen. Die Bundesregierung spricht von "Solidarität mit Frankreich" und "Kampf gegen den Terror" - eine Formulierung, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ebenfalls viel benutzt, gern auch für wechselnde Gegner.

Nur: Was den Deutschen nun erstmals droht, die unmittelbare Konfrontation mit dem syrischen Multi-Fronten-Bürgerkrieg, ist für die Türkei längst Alltag, auch wenn Erdoğan immer wieder versucht, Ankaras Verstrickung in das blutige Desaster kleinzureden. Der Abschuss der russischen Su-24 durch die türkische Luftwaffe aber hat alle Zweifel beseitigt. Die Türkei ist Kriegspartei, sie hat seit 2011 - so lange wird in Syrien schon gekämpft - alle möglichen Assad-Gegner unterstützt: fahnenflüchtige Ex-Generäle des Diktators, ethnisch verwandte Turkmenen, militante Islamisten (mit fließenden Übergängen zum Brutalregime des IS).

Assad hat sich den türkischen Erzrivalen Iran an die Seite geholt

Baschar al-Assad hat sich dafür auf perfide Weise gerächt. Er hat sich den türkischen Erzrivalen Iran an die Seite geholt, und er hat den von ihm zuvor geknechteten Kurden kampflos Territorium entlang der türkischen Grenze überlassen. Zur Selbstverwaltung - im Wissen, damit würde der Krieg über die Grenze springen und das fast ausgetretene Feuer des alten Kurden-Konflikts in der Türkei neu entfachen.

Dies alles sollte wissen, wer sich auf die Fahrt in der syrischen Geisterbahn einlässt. Die Türkei jedenfalls hat sich zwischen all den Gespenstern schon ziemlich verirrt, angetrieben von Erdoğan, der nicht verlieren kann, auch nicht gegen Assad. Spätestens seit dem offenen Beistand Russlands für Assad ist das Spiel für die Türkei ein paar Nummern zu groß geworden. Der Jet-Abschuss war eine Macho-Geste. Sie hat - wie das bei unüberlegten Kraftmeiereien oft geschieht - die Türkei verwundbarer gemacht.

Nun würden Deutschland, Frankreich und ihre Verbündeten gern so tun, als gehe sie dieser türkisch-syrisch-iranischrussische Territorialkrieg auf syrischem Boden gar nichts an und als könne man den IS - ihr eigentliches Ziel - auch unabhängig davon bekämpfen. Das wird aber kaum gelingen. Weshalb in dieser Unübersichtlichkeit letztlich wiederum Assad der Sieger sein könnte. Damit wäre dieser Krieg dann noch lange nicht ausgekämpft, selbst wenn es glücken sollte, dem IS mit vereinten Kräften die Expansionskraft zu nehmen.

Warum ist Ankara nun dennoch so froh über europäischen Beistand, nach längerer beidseitiger Entfremdung? Warum ist der Westen plötzlich wieder willkommen in Erdoğans neu-osmanischem Palast? Weil die Türkei Hilfe braucht, weil sie überfordert ist mit den Geistern, die sie rief, mit Dschihadisten im eigenen Land und vor der Haustür, und mit mehr als zwei Millionen syrischen Flüchtlingen. Was sind drei Milliarden Euro für Ankara gegen 300 Milliarden, die Europa für das pleitebedrohte Griechenland zusammengekratzt hat?, fragte ein türkischer Kommentator.

Ein günstiger Ablass für lange Gleichgültigkeit

In der Tat ist das Angebot der EU an die Türkei ein günstiger Ablass für lange Gleichgültigkeit. Die EU hat zu lange ignoriert, dass in Syriens Nachbarschaft eine Generation junger Geflüchteter vegetiert (und zur IS-Reserve werden könnte) - bis die Flüchtlinge vor Wien standen. Hilfe für die Türkei ist also angebracht, wenn sie den Entwurzelten tatsächlich zugutekommt und nicht dazu dient, der Türkei die Schmutzarbeit zu überlassen, zum Beispiel die Abschiebung der Syrer zurück nach Syrien.

Dass die Türkei nun neue internationale Aufmerksamkeit erhält, dass sie gebraucht wird im Kampf gegen den IS, feiert Erdoğan schon als Sieg. Das lässt nichts Gutes ahnen. Erdoğan benimmt sich schon länger wie ein Präsident im Krieg. Er lässt Journalisten wegsperren, die fragen, ob der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien transportiert. Und er agiert wie ein Clanchef, mit dem eigenen Schwiegersohn als Ölminister.

Zu all dem dürfen die Partner Ankaras nicht schweigen. Die Türkei, deren Wirtschaft so lange von der Globalisierung profitiert hat, spürt die Kriegsfolgen bereits. Erdoğan aber braucht stets Erfolge. Auch deshalb hat er sich an die EU erinnert. Das ist ihm kaum vorzuwerfen. Schließlich hatte auch die EU die Türkei schon abgeschrieben. Das war leichtsinnig, denn dafür ist sie Europa einfach zu nah.