telepolis, 04.12.2015 http://www.heise.de/tp/artikel/46/46759/1.html Erdogans Krieg im Südosten der Türkei Elke Dangeleit und Michael Knapp Der türkische Staat geht mit Gewalt und Terror in "Nordkurdistan" vor Seit Bundeskanzlerin Merkel im Oktober Ministerpräsident Erdogan mit ihrem Besuch ein Wahlkampfgeschenk machte[1], hat die Türkei an Aufmerksamkeit gewonnen. Man erwartet sich von der Türkei Hilfe beim Flüchtlingsproblem. Dann kam der Abschuss des russischen Kampfjets, der Medien und Öffentlichkeit beschäftigte. Der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten der Türkei wird dabei weitgehend ausgeblendet. Während der Gespräche zwischen Merkel und Erdogan wurde gerade die Stadt Cizre durch das türkische Militär und die Polizei belagert. Mindestens 20 Zivilpersonen wurden von Kräften des türkischen Staates umgebracht. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und Terrorgruppen, die Repression gegen die kurdische Bevölkerung und die Linke sowie die offenen Drohungen durch die türkische Regierung haben in den kurdischen Regionen der Türkei ("Nordkurdistan"), zu einem massiven Legitimitätsverlust des türkischen Staates geführt. Festnahmewellen und Massaker gegen Selbstverwaltung Nach den Festnahmewellen und mehreren Massakern durch offensichtlich mit der türkischen AKP- Regierung in Verbindung stehenden Terrorbanden in Diyarbakir, Ankara und Suruç gegen die Friedensbewegung und die Linke, und nachdem immer wieder Zivilpersonen von türkischen Sicherheitskräften erschossen worden waren, entschieden sich große Teile der Bevölkerung in etlichen Stadtteilen und Städten - wie Amed Sûr (Diyarbakir), Gever (Yüksekova), Colemerg (Hakkari), Gimgim (Varto), Cizîra Botan (Cizre), Farqin (Silvan), Derîk - ihre Stadtviertel selbst zu verwalten, unabhängig von den vom Staat eingesetzten Provinzgouverneuren. Als der türkische Staat dann anfing, militärisch in diese Viertel vorzudringen und Übergriffe als "Exempel" vorzuführen, wie z.B. die Präsentation des misshandelten Körpers der Guerillakämpferin Ekin Van, begann die Bevölkerung damit, die Verteidigung einiger Viertel selbst in die Hand zu nehmen. Insbesondere die PKK-Jugendbewegung, YDG-H und YDG-K, spielt bei dieser Selbstverteidigung eine tragende Rolle. Ein Großteil der Bevölkerung in den kurdischen Regionen empfindet den Staat als Bedrohung. Statt diese Tatsache anzuerkennen, und deshalb den Friedensdialog mit der PKK wieder aufzunehmen, startete die türkische Regierung eine Politik der militärischen Eskalation. Es wurden nicht, wie gewöhnlich, Gasgranaten und Wasserwerfer oder auch Sturmgewehre eingesetzt, sondern man begann, die Städte mit schweren Kriegswaffen, mit Artillerie und Panzern zu bombardieren. Ausgangssperren wurden verhängt und Scharfschützen auf den Dächern und Minaretten der Moscheen postiert. Menschen, die sich auf der Straße aufhielten, wurden immer wieder zu deren Ziel. Silvan: ein demütigender Abzug der türkischen Sicherheitskräfte Für die türkischen Soldaten, die zu Fuß hinter den Panzern des türkischen Militärs aus der seit zwei Wochen belagerten kurdischen Kleinstadt Silvan abziehen, ist das eine Demütigung: Die türkische Regierung musste die Sondereinheiten und das Militär geschlagen aus Silvan abziehen. Es war ihnen trotz massiven Beschusses und Belagerung nicht gelungen, den Widerstand in den drei umkämpften Stadtvierteln Silvans zu brechen. Widerstandstechniken, die im Kampf um Kobanî erprobt worden waren, werden nun in den Städten "Nordkurdistans" eingesetzt. So hängen Familien große Betttücher über die Straßen, um den Snipern kein Schussfeld zu bieten. Ein Spalier der kurdischen Bevölkerung begleitete den Abzug mit Buh-Rufen und Parolen "Es lebe die PKK" oder "Es lebe Kurdistan". In den Straßen Silvans wurde der Abzug gefeiert. Die älteren kurdischen Männer geleiteten die Soldaten durch das Spalier der aufgebrachten Jugend bis an den Rand der umkämpften Stadtviertel, damit es keine Übergriffe seitens der aufgebrachten kurdischen Jugend gibt. Eine beeindruckende Geste: Zwei Wochen war die Stadt belagert, das türkische Militär hat auf eigenen Staatsgebiet auf alles geschossen, was sich bewegt, und die ältere Generation der Kurden geleitet die türkischen Soldaten aus dem Krisengebiet. Man könnte gar von staatlichen Terrorgruppen sprechen, sieht man die zahlreichen Videos oder Twitter-Fotos aus Silvan. Zerstörte Straßenzüge erinnern an Kobanê, Sprüche von den türkischen Sondereinheiten an den Wänden - wie z.B.: "Wir jungen Wölfe haben Blut geleckt, wir töten euch alle" - deuten darauf hin, dass Erdogans Sondereinheiten jenseits des Militärs aus dem faschistischen MHP-Lager rekrutiert werden. Man muss zwischen dem Militär und den Sondereinheiten unterscheiden: Zweifellos geht das Militär skrupellos gegen die eigene Bevölkerung vor. Aber unter den Soldaten befinden sich auch junge wehrpflichtige Kurden, die in einen großen Loyalitätskonflikt geraten. Deutlich zu sehen in einem Video[2] aus Silvan, wo ein junger Soldat, sicher geleitet durch kurdische Männer mit einem Schulterklopfen durch den Spalier gebracht wurde. Ausnahmezustand als Normalzustand Der Ausnahmezustand wird in diesem Gebiet immer mehr zum Normalzustand. Die Situation Bürgerkrieg zu nennen, wäre falsch, denn es wird deutlich, dass es hier sich nicht um einen Konflikt verschiedener Bevölkerungsgruppen handelt, sondern um einen Konflikt zwischen Staat und Bürgern. So wurden während der nur kurzzeitig unterbrochenen 17-tägigen Ausgangssperre in Nusaybin mindesten neun Zivilpersonen von Sicherheitskräften getötet und 19 verletzt. Bei den Getöteten handelt es sich vor allem um ältere Menschen, die teilweise auf ihren Balkons oder in ihren Häusern durch die Fenster erschossen worden sind. Auch Alltagsbesorgungen wie Wasserholen - das Wasser aus der Leitung ist wie der Strom gesperrt - werden zum potentiell tödlichen Unterfangen. In Derîk brannten nach sechs Tagen Beschuss und Belagerungszustand am 30.11. die ersten Gebäude in den acht Stadtvierteln unter Ausnahmezustand durch die Granateneinschläge. Auch hier war nach Berichten der Menschenrechtsorganisation IHD die Stromversorgung abgeschnitten, Wasserspeicher unter Feuer genommen worden und Scharfschützen der Sicherheitskräfte auf den Dächern postiert. Politik der Vertreibung Es scheint dort, wo sich der Widerstand nicht brechen lässt, und die Mehrheit der Bevölkerung diesen trägt, eine Politik der Vertreibung einzusetzen, die Videos aus Derîk dazu sind deutlich[3]. Gegen die Übergriffe des türkischen Staates wird in Nusaybin und anderen Städten Widerstand geleistet. Dies ist jedoch kein Widerstand, der alleine von einzelnen Gruppen der YDG-H oder der PKK getragen wird, sondern ein Widerstand der gesamten Bevölkerung. Die Bevölkerung jeder Altersgruppe protestierte in Nusaybin die ganzen letzten 17 Tage mit Lärmaktionen (z.B: Töpfeklappern) und der Unterstützung der Verteidigungseinheiten an den Barrikaden. Trotz der Angriffe mit schweren Waffen, und obwohl die Wasser- und Energieversorgung abgeschnitten war, ließ sich die Bevölkerung, wie zuvor schon in Cizre, nicht einschüchtern. Der Angriff der Staatsorgane stärkt die Selbstverwaltung und Selbstorganisierung in den Stadtvierteln Vielerorts fördert der Angriff des Staates eher den Zusammenhalt der kurdischen Bevölkerung und die weitere Durchsetzung des rätedemokratischen Selbstverwaltungsmodells. Am ersten Tag der Besatzung der Stadt Nusaybin stellten die Spezialeinheiten fest, dass sie nicht in die Stadtviertel vordringen konnten. Es fand ein Strategiewechsel statt, man begann vor allem mit dem Bombardement aus Mörsern. Besonders die Wasserspeicher auf den Dächern der Häuser und die Transformatoren in den Stadtvierteln waren das Ziel, um so die Bevölkerung zu demoralisieren. Die Bevölkerung reagierte mit Ausweitung der Arbeit der Basisräte. In der kurdischen Stadt Gever sind mittlerweile alle Straßenzüge in Straßenräten (Kommunen) und Stadtviertelräten organisiert[4] und verwalten sich selbst durch ihre gewählten Co-Vorsitzenden (immer ein Mann und eine Frau). Die Räte organisierten die mit der Zeit immer schwieriger werdende Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser. Kollektive Waschgelegenheiten wurden an sicheren Orten eingerichtet. Alle notwendigen Bedürfnisse wie auch die Sicherheit wurden über die kommunale Arbeit koordiniert. Die Bevölkerung bildete ein eng gesponnenes Netz, welches das Vordringen der Polizei in die Stadtviertel auch weiterhin verhinderte. Besonders stark beteiligten sich Frauen jeden Alters an der Organisation und Verteidigung. Alte wie junge Frauen und Mütter übernahmen Verteidigungsstellungen an den Barrikaden. Ähnlich wie in Rojava zeigt sich auch hier, dass das offensive Auftreten der Frauen immer mehr patriarchale Gesellschaftsstrukturen aufbricht, so befreite[5] die Frauenjugendeinheit der YDG-K beispielsweise in Cizre eine 17jährige, die zwangsverheiratet werden sollte, direkt aus dem Hochzeitshaus. Auch am 17. Tag der Belagerung skandierte die Bevölkerung von Nusaybin die Parole "Die Berge und Straße werden sich vereinigen". Die Parole weist[6] einerseits darauf hin, dass die Guerilla, die momentan ihre Einheiten immer noch in den Bergen hat, gemeinsam mit der Bevölkerung kämpfen wird, andererseits, dass die Berge, in die das Militär nicht vordringen kann, als befreite Gebiete verstanden werden und die Städte dem nachkommen werden. Die EU muss aufpassen, mit wem sie sich einlässt. Anhang Links http://www.heise.de/tp/artikel/46/46281/ https://www.youtube.com/watch?v=WQ6F5PBBXxQ http://anfturkce.net/kurdistan/derik-te-evler-atese-verilmeye-baslandi http://www.diclehaber.com/tr/news/content/view/485927?from=1815887918 http://www.etha.com.tr/Haber/2015/11/09/kadin/ydg-k-dugunevini-basti-cocuk-gelini-aldi/ http://www.bestanuce1.com/224929/nusaybin-halki-dag-ve-sehir-birlesecek&dil=tr
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