welt.de, 08.12.2015 http://www.welt.de/wirtschaft/article149677347/Handelskrieg-zwingt-Russland-in-die-Arme-der-EU.html Türkei-Konflikt Handelskrieg zwingt Russland in die Arme der EU Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei entwickelt sich zwischen den Ländern ein ausgewachsener Handelskrieg. Für die Gasversorgung der Europäischen Union ist das von Vorteil. Von Eduard Steiner Noch schlechter konnte die Stimmung in der russischen Wirtschaft eigentlich gar nicht mehr werden: Ölpreis (Link: http://www.finanzen.net/rohstoffe/oelpreis) und Rubel im Keller, die Wirtschaft ohne Motor, die Sanktionen des Westens (Link: http://europa.eu/newsroom/highlights/special-coverage/eu_sanctions/index_de.htm) vor der Verlängerung. Als wäre all dies noch nicht Zumutung genug, droht nun auch noch ein ausgewachsener Wirtschaftskrieg mit dem wichtigen Handelspartner Türkei. Denn Kremlchef Wladimir Putin ist aus Zorn über den Abschuss des russischen Kampfflugzeuges durch die Türken nicht mehr zu bremsen. Das Regime in Ankara werde diesen Schritt noch "mehr als einmal" bereuen, sagte er zum Auftakt seiner Rede an die Nation – von der russischen Wirtschaftszeitung "Wedomosti" übrigens als "Rede an den türkischen Präsidenten" betitelt: Wer glaube, dass sich die Maßnahmen gegen die Türkei auf Handelssanktionen beschränkten, irre sich, betonte Putin. Keine Jobs mehr für Türken in russischen Firmen Die Sanktionen waren im Handumdrehen schon Ende November beschlossen worden: Ab 1. Januar werden türkische Firmen bei Auftragsvergaben in Russland benachteiligt, türkische Staatsbürger sollten in russischen Firmen nicht mehr beschäftigt werden. Charterflüge ins Land am Bosporus werden untersagt. Gewisse Gemüse- und Obstsorten dürfen nicht mehr eingeführt werden. Bislang stammt ein Fünftel der russischen Obst- und Gemüse-Importe aus der Türkei. Nach Schätzung der Zentralbank dürfte das neue Embargo deshalb die Inflationsrate um weitere 0,4 Prozent nach oben treiben, die Alphabank befürchtet gar eine Teuerungsrate von 1,5 bis 2 Prozentpunkten. Dabei war die Inflationsrate in Russland im Laufe dieses Jahres schon wegen der westlichen Sanktionen auf etwa 15 Prozent nach oben geschnellt. In Russland macht man sich keine Illusionen darüber, dass die Türkei auch an Gegensanktionen denkt. So hat das Moskauer Handelsministerium bereits alle in Russland produzierenden Autokonzerne aufgefordert zu analysieren, wie schnell sie die aus der Türkei importierten Autoteile anderswo auftreiben könnten. Wenn Ankara den Export einschränkt, dürfte sich die Produktion in der russischen Autoindustrie rapide verteuern. Noch nervöser sind Medienberichten zufolge die russischen Getreidebauern, weil mehrere Händler sich nun mit neuen Lieferverträgen in die Türkei zurückhalten, um am Ende nicht auf dem Getreide sitzen zu bleiben. In der Vorwoche sei der Weizenpreis in russischen Exporthäfen bereits gefallen. Russen machten in der Türkei gute Geschäfte Optimisten sind selten geworden. Nur Herman Gref, Chef der größten russischen Bank Sberbank (Link: https://www.sberbankdirect.de/de/home/) , meint, dass die Talsohle der Negativereignisse 2015 durchschritten werde und 2016 eine Deeskalation zu erwarten sei. Die Sberbank (Link: http://www.welt.de/themen/sberbank/) muss freilich Optimismus verbreiten, schließlich ist sie prominent in der Türkei aufgestellt. Vor drei Jahren hatte sie für 3,5 Milliarden Dollar die türkische Denizbank gekauft. Für beide Länder steht viel auf dem Spiel. Zwar ging das Handelsvolumen im laufenden Jahr aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise und der Rubel-Abwertung zurück. Aber noch 2014 lag der Wert des Warenaustauschs bei 31 Milliarden Dollar (29,2 Milliarden Euro). Nimmt man den Austausch von Dienstleistungen hinzu, waren es fast 44 Milliarden Dollar. Die Russen verdienen mit den Türken deutlich mehr als umgekehrt – das bilaterale und generelle Handelsbilanzdefizit der Türkei ist notorisch und chronisch. Es wird freilich noch größer werden, wenn die Russen tatsächlich künftig darauf verzichten, ihren Urlaub in der Türkei zu verbringen. Dass Russlands oberste Entscheidungsträger bis hin zu Putin ihren Landsleuten geraten haben, von Reisen in die Türkei abzusehen, ist für das Land am Bosporus ein besonderer Tiefschlag. Schließlich waren die Russen in den vergangenen zehn Jahren zur zweitgrößten Touristengruppe hinter den Deutschen aufgestiegen und hatten aufgrund ihrer Spendierlaune große Beliebtheit erlangt. Aber auch die Türkei hat bereits begonnen, Russland an einer besonders empfindlichen Stelle Schmerz zuzufügen: Beim Erdgas. In den letzten Jahren ist die Türkei zu Gazproms zweitgrößtem Gaskunden hinter Deutschland aufgestiegen. 27,3 Milliarden Kubikmeter wurden im Vorjahr in die Türkei geliefert, was einem Drittel des deutschen Jahresverbrauchs entspricht. Ankara sieht sich nach anderen Gaslieferanten um Zwar wird sich kurzfristig daran kaum etwas ändern. Aber die Regierung in Ankara beginnt, sich nach anderen Lieferanten umzusehen. Am 2. Dezember unterzeichneten türkische Staatsvertreter eine Absichtserklärung mit dem Gas-Eldorado Katar über die Lieferung von Flüssiggas (LNG). Solches hatte man schon früher von dort bezogen – allerdings nur über kurzfristige Kontrakte. Sollte es nun zu einer langfristigen Kooperation kommen, hätte Russland ein Déjà-vu-Erlebnis: Nach der Finanzkrise 2008 war es ebenfalls Katar, das seine Gastanker nach Europa umleitete und Gazprom (Link: http://www.welt.de/themen/gazprom/) dort Marktanteile entriss. Auch im Gasförderland Aserbaidschan am Kaspischen Meer wurden türkische Emissäre schon vorstellig. Einen Tag nach der Einigung mit Katar besuchte der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu bereits den aserischen Autokraten Ilham Aliev in der Hauptstadt Baku. Man einigte sich darauf, die für 2018 anvisierte Transanatolischen Gaspipeline (TANAP) (Link: http://www.tanap.com/) aus Baku nun schon früher fertig zu stellen. Über sie wird die Türkei sechs Milliarden Kubikmeter Gas erhalten. Weitere zehn Milliarden Kubikmeter werden weiter über den Südbalkan und die Adria nach Italien fließen. Somit könnte auch Europa schon früher Zugang zu jenem kaspischen Gas erhalten, um das es sich seit einem Jahrzehnt bemüht. Chancen auf weitere Ostsee-Pipeline steigen Doch es gibt weitere Auswirkungen auf die Versorgung Westeuropas mit Pipelinegas: Seit Donnerstag gilt es als sicher, dass Gazprom das Vorhaben zum Bau der Turkish-Stream genannten Gaspipeline zur zusätzlichen Versorgung der Türkei aufgegeben hat. Energieminister Alexander Nowak erklärte, die diesbezüglichen Gespräche mit der Türkei seien abgebrochen worden. Damit ist auch vom Tisch, dass die EU beizeiten über den türkischen Transit mit russischem Gas versorgt werden könnte. Dabei war die Idee für diese Pipeline erst zu Beginn des Jahres geboren worden – als Ersatz für die lange forcierte South-Stream-Pipeline durchs Schwarze Meer, gegen die sich die EU gewehrt hatte. So richtig vom Fleck war freilich auch Turkish-Stream nicht gekommen, weil sich die EU nicht hat dafür erwärmen können, eine Anschlusspipeline aus der Türkei zu bauen. Auch hielt sich hartnäckig die Vermutung, dass Gazprom Turkish-Stream ohnehin nur als Druckmittel einsetzen wollte, um Europa für den Ausbau der Ostseepipeline Nord-Stream (Link: http://www.nord-stream.com/de/) zu gewinnen. Schon im Sommer sagten dann mehrere europäische Energiekonzerne zu, sich an einer Nord-Stream II beteiligen zu wollen. Mit der Absage des Projekts
Turkish-Stream ist Nord-Stream II nun aber nur noch wahrscheinlicher geworden.
Vor allem für den Gazprom-Konzern, der den Gastransit durch die Ukraine
verringern will, gibt es nun keine Alternative mehr zum Ausbau der Ostseepipeline.
In seiner Rede an die Nation am vergangenen Donnerstag untersagte sich
Putin bereits kritische Töne gegenüber der Europäischen Union.
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