FAZ, 10.12.2015

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Türkischer Ministerpräsident Das neue Mitteilungsbedürfnis Ankaras

Ahmet Davutoglu wirft Russland ethnische Säuberungen in Syrien vor – gleichzeitig lobt der türkische Ministerpräsident sein eigenes Land bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise.

von Michael Martens, Istanbul

Es gab Zeiten, da war die türkische Regierungspartei AKP auf westliche Journalisten nicht gut zu sprechen. Spätestens seit den Massenprotesten in Istanbul im Jahr 2013 fühlte sie sich von den Journalisten unfair beurteilt. Der Übervater der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, begann ausländische Journalisten als fünfte Kolonne der Feinde einer unabhängigen und starken Türkei zu verunglimpfen.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen. Folgen:

Seit einigen Monaten deutet sich nun jedoch ein vorsichtiger Wandel an. Er geht allerdings nicht vom Präsidentenpalast aus, sondern vom Büro des unlängst mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigten Regierungschefs Ahmet Davutoglu. Berater des Ministerpräsidenten stehen ausländischen Korrespondenten zu Hintergrundgesprächen zur Verfügung, sie gehen ans Telefon oder rufen sogar zurück, sind bei der Vermittlung von Kontakten behilflich. Das sind alles Dinge, die es in den vergangenen Jahren, als sich die AKP in einer Art Wagenburgmentalität in die von ihr kontrollierten Ministerien und Behörden zurückgezogen hatte, kaum noch gab in Ankara.

Als Zeichen der neuen Offenheit hat Davutoglu nun auch einige westliche Journalisten zu einem Gespräch in seinem Neben-Amtssitz im Istanbuler Dolmabahce-Palast eingeladen – und dabei die Gründe für die neuen Umgangsformen ganz offen genannt: „Wir habe gerade in den letzten Jahren verstanden, dass die Türkei ein Imageproblem hat“, sagte Davutoglu zur Begrüßung, bevor er zu einem weltpolitischen Eröffnungsreferat anhob, das in seiner Ausführlichkeit durchaus der schnörkelreichen Opulenz des Dolmabahce-Palastes angemessen war. Erst als Davutoglu nach mehr als 40 Minuten seinen Monolog unterbrach, durften Fragen gestellt werden. Dabei wurde deutlich, dass es dem Regierungschef nicht zuletzt darum ging, der russischen Darstellung über die türkische Rolle im Syrien-Krieg entgegenzutreten und seinerseits deutliche Kritik an Moskaus Intervention im dem zerfallenen Staat des Gewaltherrschers Baschar al Assad zu üben.

„Wer also unterstützt hier den IS?“

So warnte Davutoglu als Antwort auf die Frage, ob die deutschen und die türkischen Vorstellungen zur Lösung der Flüchtlingskrise überhaupt miteinander übereinstimmten, zunächst eindringlich, dass die russischen Bombardierungen in Syrien für die Türkei und Deutschland einen noch größeren Flüchtlingsansturm bedeuten könnten: „Zwischen Aleppo und Latakia leben drei Millionen Menschen. Wenn diese Bombardierungen fortgesetzt werden, dann kann ich nicht sagen, wie viele Millionen noch in die Türkei kommen werden.“

Davutoglu ging noch deutlich weiter und sagte sinngemäß, in Wirklichkeit sei es nicht wie von Moskau behauptet sein Land, sondern Russland, das den „Islamischen Staat“ (IS) unterstütze. Als Beispiel nannte er die russischen Luftangriffe auf Azaz, eine syrische Stadt nördlich von Aleppo unweit der Grenze zur Türkei, die eine Hochburg der „moderaten Opposition“ gegen den IS sei. „Jetzt unternimmt Russland Operationen gegen die moderate Opposition vor allem in Azaz...Wer also unterstützt hier den IS? Die Türkei oder Russland?“, fragte Davutoglu und spekulierte über die russischen Motive: „Russland möchte seine eigene Sicherheitszone haben. Deshalb bombardieren sie die Turkmenen in Syrien, weil die turkmenischen Region wichtig ist, um (das vom Assad-Regime gehaltene) Latakia zu kontrollieren. Russland versucht, ethnische Säuberungen zu betreiben.“

Zwischen diplomatischen Floskeln und klaren Worten

Ziel der russischen Eingriffe sei es, alle Turkmenen und die sunnitischen Araber, die keine guten Beziehungen zum Assad-Regime haben, aus der Region zu vertreiben. „Sie wollen diese Gegend ethnisch säubern, damit die Stützpunkte des Regimes sowie der Russen in Latakia und in Tartus geschützt werden.“ Der Kampf richte sich nicht gegen den IS. „Sie wollen in dem Teil Syriens keine sunnitisch-arabische oder turkmenische Bevölkerung sehen. Das ist der Zweck.“

In ihrer Deutlichkeit zeigten Davutoglus Äußerungen, wie es mittlerweile bestellt ist um die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei. Auch Davutoglus beschwichtigende Bemerkung, eigentlich sei das türkisch-russische Zerwürfnis „kein bilaterales Problem“, denn es gehe „allein um Syrien“, wirkte in diesem Lichte wenig überzeugend – zumal sich der türkische Ministerpräsident, sobald er den Konflikt kleinzureden versuchte, wenige Sätze später doch wieder in Rage redete. Sprach er eben noch von „Meinungsverschiedenheiten“ zwischen Ankara und Moskau und von einer russischen Rolle, die „nicht hilfreich“ sei, ließ er wenige Sätze später alle diplomatischen Floskeln beiseite: Die Russen täten „genau das, was Assad in den letzten vier Jahren getan hat. Sie schwächen die moderate Opposition, und deshalb richten sich nur zehn Prozent der russischen Angriffe gegen den IS“, sagte Davutoglu.

Davutoglu warnt vor „unabsichtlichen Konfrontationen“

Als Folge davon nehme auch der Druck des IS auf Aleppo Tag für Tag zu. „Wir haben die Russen mehrere Male gewarnt, unsere Grenze und unseren Luftraum nicht zu verletzen und Zivilisten nicht zu bombardieren, denn sonst flüchten sie in die Türkei, und die Zahl der Flüchtlinge steigt noch weiter“, rechtfertigte er den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch die türkische Luftabwehr und fragte, wie wohl Moskau reagieren würde, wenn die Türkei mit Kampffliegern in den Konflikt in der Ukraine eingriffe.
© dpa, reuters Erste Bundeswehr-Tornados gestartet

Russland behaupte schließlich, von der rechtmäßigen syrischen Regierung nach Syrien eingeladen worden zu sein, begann Davutoglu ein kleines Gedankenexperiment: „Nehmen wir nun an, dass die rechtmäßige ukrainische Regierung die Türkei einlüde, gegen pro-russische Elemente im Osten der Ukraine zu kämpfen. Und nehmen wir an, dass unsere Kampfflugzeuge pro-russische ethnische Elemente in der Ukraine bombardieren, wie die Russen das in Syrien gegen die Turkmenen machen. Nehmen wir weiter an, türkische Flieger verletzten den russischen Luftraum, um Angriffe gegen Menschen in der Ukraine auszuführen. Was wäre die Reaktion gewesen?“ Wenn Russland handeln wolle, müsse es gemeinsam mit dem UN-Sicherheitsrat handeln. Die Luftwaffen von zwei Koalitionen „können nicht im gleichen Gebiet zur gleichen Zeit ohne Koordination operieren“. Das werde immer „Unfälle“ oder „unabsichtliche Konfrontationen“ geben, warnte Davutoglu.

„Wir haben keine Pegida-Bewegung“

Doch wie soll es nun weitergehen in der Flüchtlingskrise? Während Davutoglu voll des Lobes war für „Madame Angela“ und die deutsche Kanzlerin im Laufe des fast zwei Stunden dauernden Gespräches häufiger erwähnte als seinen Staatspräsidenten Erdogan, blieb seine Antwort auf diese Frage auffällig unbestimmt. Es gehe darum, einen „regulären Migrationsprozess zu schaffen, um irreguläre Migration zu kontrollieren“, sagte der türkische Ministerpräsident, was wohl hieß, dass Deutschland und andere europäische Staaten syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufnehmen und in Flugzeugen nach Europa bringen sollen.

Die Frage, ob die Türkei ihrerseits bereit sei, nach Beginn einer solchen Kontingentlösung noch illegal auf den griechischen Inseln ankommende Migranten umgehend wieder zurückzunehmen, ignorierte Davutoglu jedoch. Stattdessen erinnerte er an das bekannte Junktim Ankaras, dass es eine Rücknahme von Flüchtlingen, die über türkisches Territorium nach Europa gelangten, nur dann geben werde, wenn die Staaten der Schengen-Zone gleichzeitig Reisefreiheit für die 75 Millionen Bürger der Türkei einführen: „Rücknahme und Visaliberalisierung sind ein Paket“, sagte Davutoglu und gab sich zuversichtlich, dass es spätestens in neun Monaten zur Reisefreiheit für die Türken kommen werde.

Zugleich sprach er sich gegen Erwartungen aus, die Türkei werde die vornehmlich muslimische Masseneinwanderung nach Europa aufhalten. Ihre Grenze zu Syrien könne die Türkei aufgrund ihrer „historischen und internationalen Verpflichtungen“ nicht schließen, und eine Schließung der Grenzen im Westen (also zu den EU-Staaten Bulgarien und Griechenland) sei sowieso „unmöglich“, so Davutoglu. „Wie kann man Menschen davon abhalten, wenn sie irgendwo hingehen wollen? Wir können nicht handeln wie einige osteuropäische Völker“, sagte Davutoglu unter Anspielung auf Ungarn, ohne das Land zu nennen. Er erinnerte aber an die später entlassene (ungarische) Kamerafrau, die im Sommer dabei gefilmt worden war, wie sie einem rennenden Flüchtlingskind im serbisch-ungarischen Grenzgebiet ein Bein stellte. Solche Bilder gebe es aus der Türkei nicht, stellte Davutoglu befriedigt fest und behauptete unzutreffend, es habe in seinem Land „keinen einzigen“ gegen Flüchtlinge gerichteten Vorfall gegeben.

Fast 15 Prozent der syrischen Vorkriegsbevölkerung lebe derzeit in der Türkei, und die Zahl könne noch steigen, führte Davutoglu aus. Dennoch habe es „keine antisyrische, antiarabische oder Antimigrantenbewegung“ in der Türkei gegeben. „Wir haben keine Pegida-Bewegung...Ich bin stolz auf mein Volk“, sagte Davutoglu und führte zur Illustration türkischer Großherzigkeit das oft genannte Beispiel der Grenzstadt Kilis an, in der laut offiziellen Zahlen inzwischen mehr Flüchtlinge als Einheimische leben. „In Kilis stellen die Syrer heute 54 Prozent der Bevölkerung. Die Türken sind also eine Minderheit dort. Aber wir haben uns nicht beschwert. Wir haben nicht geschrien.“ Dass nur etwa ein Fünftel der syrischen Flüchtlinge in der Türkei in Lagern lebt, die Mehrheit sich hingegen außerhalb davon auf eigene Faust durchschlagen muss, erwähnte er freilich nicht.