Konsultation Abdullah Öcalans mit seinen Anwälten am 31. Januar 2007

Wir haben mit dem türkischen Volk keinen Widerspruch

Bei seinen in letzter Zeit regelmäßiger stattfindenden anwaltlichen Konsultationen hat Abdullah Öcalan die aktuelle politische Situation der Türkei kommentiert: „Die DYP wird die Führung im Liberal-Demokratischen Lager einnehmen. Aðar hat seinerzeit 15 Jahre gegen uns gekämpft. Er war auch in die Attentatsversuche gegen mich involviert. Trotzdem ist es möglich, dass sie endlich die Realitäten erkennen.“ Zu den Aufsehen erregenden Erklärungen aus Kreisen des Geheimdienstes MÝT erklärte Öcalan: „Der MÝT warnt davor, dass sich der Nationalstaat, wenn er sich nicht wandlungsfähig zeigt und so weiter macht wie bisher, sein eigenes Grab schaufeln wird. Seit langem schon versuche ich davor zu warnen, dass diese ‘Neo-Ýttihatçýlar’ (1) die Türkei in eine Katastrophe treiben. Diese Kreise werden von einigen auch als ‘Ittihatçilar’ bezeichnet. Ich habe zuvor schon gesagt, dass so wie Deutschland in den Jahren des ersten Weltkrieges mit den Ýttihatçýlar ein Bündnis schloss, heute die Neo-Ýttihatçýlar dieses Bündnis fortsetzen.“

„Ich zitiere oft die Beispiele Irak und Jugoslawien. Die Türkei sollte die Lehren aus beiden ziehen. Die abenteuerliche Politik der Neo-Ýttihatçýlar bringt keinen Nutzen, sondern schadet nur. Ich sage es erneut: Es gilt, die Vorgehensweise Kemal Atatürks zu modernisieren, den heutigen Bedingungen anzupassen. Den Begriff ‘Kuvva-i Demokrasi’(2) habe ich nicht ohne Grund gewählt. So wie damals ist heute eine Einheit der demokratischen Kräfte von Nöten. Sollte das zu verwirklichen sein, dann kann die Begeisterung der Gründerzeit der Republik erneut aufleben und die Türkei im Nahen Osten zu einer beispielhaften Demokratie werden lassen. Wir haben kein Problem mit der Republik. Unser Problem ist: die Republik muss demokratisiert werden.

Die Neo-Ýttihatçýlar nennen sich selbst Kemalisten. Aber Mustafa Kemal ist niemals mit Deutschland ein Bündnis eingegangen. Seine Linie war freiheitlich und auf Unabhängigkeit gerichtet. Weil die Bedingungen jener Zeit es notwendig machten, hat er vor allem mit England, aber auch mit Russland Bündnisse geschlossen. Aber er hat niemals mit Deutschland ein Bündnis geschlossen. Er sah die Gefahren des deutschen Faschismus. Der Weg, den die Türkei zurzeit eingeschlagen hat, ähnelt der Phase des Hitler-Faschismus in Deutschland, die mit der Katastrophe des zweiten Weltkriegs endete.
So wie das Bündnis Deutschlands mit der ‘Ýttihat ve Terakki’ das Ende für die Osmanen bedeutete, so wird auch das Bündnis Deutschlands mit den Neo-Ýttihatçýlar die Türkei einem ähnliches Risiko aussetzen. Der deutsche Imperialismus hat auch im Irak den Nationalstaat unterstützt, sich hinter Saddam gestellt, ihn gegen Amerika ermutigt, ihn unterstützt, aber dann auf halbem Wege fallen gelassen.“

Die Haltung Deutschlands ist verabscheuungswürdig

Öcalan erklärte, dass er die Haltung Deutschlands als sehr verabscheuungswürdig betrachte. „1980 versuchte Deutschland zum ersten Mal, Beziehungen zu uns aufzunehmen. Als sie sahen, dass sie mit uns keine Spielchen treiben konnten, uns nicht für ihre Interessen benutzen konnten, ließen sie uns fallen. Während des Krieges rüsteten sie die Türkei reichlich mit Waffen aus, um sie gegen uns einzusetzen. Sie schlossen die Verrätern und Abtrünnigen in die Arme. Seit 1985 begingen sie uns gegenüber jegliche Art von Feindseligkeit. Sie griffen uns auf jedwede Art an. Es gab auch Verhaftungen. Welches Verbrechen soll Muzaffer Ayata schon begangen haben, dass sie ihn jetzt festhalten? Auf der anderen Seite gewähren sie geflohenen Verrätern Schutz, die Morde begangen haben und in das Organisierte Verbrechen verstrickt sind; sie geben ihnen Geld, gewähren ihnen Chancen.“

Öcalan gab weiterhin eine Einschätzung zur Positionierung der globalen Mächte im Mittlern Osten ab: „Heute stehen auf der einen Seite derer, die in Politik des Mittleren Ostens intervenieren, die USA und England. Beide sind eins. Auf der anderen Seite steht das von Europa unterstützte Deutschland. Deutschland unterstützt in der Türkei die Neo-Ýttihatçýlar. Amerika und England hingegen nehmen Einfluss auf die AKP. Die Politik Amerikas und Englands im Nahen Osten und auch in der Türkei ist einflussreicher. Ich bin weder ein Befürworter Deutschlands noch Amerikas. Meine Linie und meine Haltung sind bekannt. Die DYP versucht nun, eine liberal-demokratische Linie einzuschlagen. Mit England und Amerika werden sie vielleicht Beziehung aufnehmen, da diese wohl eine realistischere Politik machen werden.“

In Bezug auf das Bündnis zwischen Kurden und Türken kam Abdullah Öcalan in seiner Analyse zu folgendem Ergebnis: „Die Osmanen erstreckten sich über ein weites Gebiet, das viele Ethnien und Kulturen umfasste. Darin spielten nach den Türken die Kurden eine wichtige Rolle. In der Zeit von Idris von Bitlis(3) (Ýdris-i Bitlisi) besaßen die Kurden einen Status, der ihnen vier Regierungen und elf Fürstentümer zubilligte. Der Art nach waren es Dynastien. Das steht nicht im Einklang mit dem heutigen Verständnis einer Demokratie. Aber es gibt auch heute noch Leute wie Melik Fýrat(4), die daran festhalten. Auch Talabani hat sich davon noch nicht ganz befreien können. Dass Talabani der Vorreiter für das Bündnis von Kurden und Schiiten ist, erwähnte ich bereits. Seine Beziehungen zum Iran sind sehr gut. Es besteht die Gefahr, dass das Kurdisch-Türkische Bündnis, das in der Zeit von Yavuz Selim(5) mit Ýdris-i Bitlisi begann, sein Ende findet. Es gibt Entwicklungen die aufzeigen, dass es Platz macht für ein Bündnis von Kurden und Schiiten. Wenn sich das Demokratische Bündnis von Türken und Kurden nicht entwickelt, sondern in der Türkei die Politik der Neo-Ýttihatçýlar Oberhand gewinnt, wenn also die totale Vernichtung der Kurden verfolgt wird, dann bleibt den Kurden keine andere Wahl, als das Bündnis zwischen Kurden und Schiiten zu entwickeln. Auch die PKK wird darin ihren Platz einnehmen. Dann wird die PKK gemeinsam mit Talabani handeln. Es ist das, wovor ich warne.“

Vier Positionen in der Türkei

Bezüglich der türkischen Gesellschaft sprach Öcalan von vier vorherrschenden Positionen und von drei Aufgaben, die zu bewältigen seien: „ Die erste Position oder These ist die, in der die Kräfte ihren Platz einnehmen, die den Status quo erhalten wollen. Repräsentant dieser Haltung ist die AKP. Sie verfolgen die Politik, sich über den Tag zu retten und die Macht zu behalten. Anstatt das Problem einer Lösung zuzuführen, verschieben sie es und lenken stets ab.
Die zweite Position ist die National-Staatliche Linie, in der die Neo-Ýttihatçýlar und die Rote-Apfel-Fraktion ihren Platz einnehmen. Sie verteidigen eine Politik des sich nach innen Verschließens. Sie isolieren die Türkei von der Welt und vertreten ein starres Verständnis vom Nationalstaat. Sie nehmen jeglichen Kampf und Krieg, der darauf folgt, billigend in Kauf. CHP und MHP sind es, die diese Ansicht vertreten. Sie sind es, die vom Eurasiertum sprechen. Von einer Zusammenarbeit mit Syrien, Russland, ja sogar China wird gesprochen. Das ist jedoch nicht realistisch. Allein auf Nationalstaatlichkeit gestützt werden sie nicht mit den USA fertig werden. Der Irak ist das beste Beispiel dafür. Außerdem sind sie die zeitgenössischen Vertreter der Mentalität der Ýttihatçýlar, die einst die Armenier massakrierten. Unter ihnen denken einige daran, die gleichen Methoden auch auf die Kurden anzuwenden.
Die dritte Position ist die der Liberal-Demokratie. Es scheint, als ob die DYP politisch ein wenig in diese Richtung zielt. Institutionen wie der Unternehmerverband TÜSIAD teilen diese Auffassung. Auch die ANAP kann man zu ihnen zählen. Aber sie haben nicht mehr ihre alte Stärke. Außerdem fußen die Wurzeln des ANAP-Vorsitzenden Erkan Mumcu im Nationalismus und es ist nach wie vor unklar, was seine Linie ist. Die Liberal-Demokratische Position ist, wenn auch nur eine Spur, so doch positiver zu bewerten als die Position des Status quos. Desgleichen ist die Position der Neo-Ýttihatçýlar wesentlich negativer als die des Status quos.
Die vierte Position ist die, die wir als gesellschaftliche Demokratie bezeichnen, die wir teilen und deren Führung wir innehaben. Man kann das auch demokratischen Sozialismus nennen. Zuvor habe ich auch andere Begriffe benutzt. Wichtig ist nicht das Wort, sondern was es aussagt. Dieses Thema habe ich schon zuvor im Detail erklärt. Es ist die demokratische Organisierung der Völker, der Gruppen, der Gemeinschaften, der Schichten, der Vereine usw. Die Vertreterin der ersten Position, der These des Status quo, ist die AKP. Vertreterin der zweiten Position ist die CHP. Zwischen beiden kommt es von Zeit zu Zeit zu Bündnissen in praktischen Angelegenheiten. Diejenigen, die die vierte Position verteidigen, also Demokraten und Friedensfreunde, könnten mit den Liberal-Demokraten, den Vertretern der dritten Position, ein vorübergehendes Bündnis eingehen.

Zu den Aufgaben, vor denen die türkischen Gesellschaft steht, erkläre ich folgendes: Das Schema hatte ich zuvor schon angerissen. Zuerst muss der Staat und muss die Republik reformiert werden. Dies betreffend habe ich von einem dreistufigen System gesprochen. Zuvorderst der politische Rat; dies umfasst die staatlichen Leitungsorgane bestehend aus Staatspräsidentschaft, dem Ministerpräsidenten und dem Parlament. Das zweite wäre der Sicherheitsrat. Das dritte wäre der Rat der Verfassung.
Die zweite Aufgabe besteht darin, entgegen dem Senat die direkten Vertreter des Volkes in einer Volkskammer zu versammeln. Diese Körperschaft vertritt die Gesellschaft der Türkei, in ihr sind alle gesellschaftlichen Gruppen der Türkei vertreten. Das hatte ich auch zuvor schon ausgeführt. Wir haben mit dem wirklichen türkischen Volk – manchmal sage ich auch Türkmenen – also mit dem werktätigen türkischen Volk überhaupt keinen Widerspruch. Der Teil, der die chauvinistisch-leugnerische Position verinnerlicht hat, macht nur höchstens einen Umfang von zehn Prozent der Bevölkerung der Türkei aus. Aber sie haben die Oberhand im Staate. Sie sind eine glückliche Minderheit, die von Staate profitiert und oftmals nicht einmal Türken sind, sondern nur so tun als ob. Mit den übrigen neunzig Prozent der türkischen Gesellschaft, die nichts mit ihnen zu tun haben, haben wir nicht das geringste Problem. Und wie ich schon einmal erwähnt habe sind es auf kurdischer Seite im Höchstfall 200 Familien, die mit ihnen gemeinsame Sache machen. Auch sie sind eine glückliche Minderheit, die von den Möglichkeiten des Staates profitiert. Sie machen höchstens fünf Prozent der Kurden aus. Fünfundneunzig Prozent der Kurden haben mit neunzig Prozent der türkischen Gesellschaft kein Problem. Es gibt keine Probleme zwischen den Völkern. Neunzig Prozent der türkischen Gesellschaft, die nicht mit der chauvinistisch-leugnerischen Politik infiziert sind, sind die natürlichen Bündnispartner der Kurden.

Gegen das globale Kapital den Globalen Widerstand erheben

Die dritte Aufgabe wäre, gegen den Angriff des globalen Kapitals Widerstand zu leisten. Das globale Kapital zerstört für seine Interessen Gesellschaft, Individuum, Natur und Umwelt. Es befindet sich in einem Großangriff. Für den Profit erachtet es alles als legitim. Für nur eine einzige Stunde Vergnügen sind sie bereit, unersetzliche Wunder der Natur zu zerstören. Auf Gipfeltreffen wie dem in Davos kommen sie zusammen und bestimmen ihre Politik. Die dagegen entwickelten Sozialforen sind unzureichend. Gegen diesen Angriff des globalen Kapitals sind der globale Widerstand und ökonomisch gesehen die globale Solidarität notwendig. Die Dekadenz der Gesellschaft, die sich ausdrückt in Scheußlichkeiten wie Kinderpornografie und Vergewaltigung, sind das Ergebnis dieses globalen Angriffs. Gegen diesen Angriff ist die Gründung von Komitees zum Schutze der Gesellschaft notwendig.
Was diese drei Aufgaben angeht, mögen meine Gedanken etwas utopisch erscheinen, aber sie sind für die Türkei von Bedeutung. Wenn die Zeit kommt, wird es schon verstanden werden.“

Weitere Morde können folgen

Zu den Ausführungen des Ministerpräsidenten den „Tiefen Staat“ bereffend sagte Öcalan folgendes: „Seit den Osmanen ist der ‘Tiefe Staat’ Realität. Es ist notwendig, ihn zu minimieren und wenn möglich zu vernichten. Ob die Kraft der AKP dafür ausreichen wird, ob sie es überhaupt anstreben, weiß ich nicht. Dieser Mord an Hrant Dink und die Morde zuvor, der Bombenanschlag in Diyarbakýr, dutzende von Banden wie die Atabeyler, das alles steht im Zusammenhang. Vor diesem letzten Mord gab es in der Türkei sehr viele andere. Morde dieser Art waren zu erwarten. In der Zeit des Wahlkampfes werden weitere zu erwarten sein.“

Im Widerspruch zur Gerechtigkeit

Öcalan ging im Folgenden auch auf den Entwurf des Sekretariats des Ministerkomitees des Europarates für die Zusammenkunft vom 13./14. Februar ein. Er äußerte sich folgendermaßen: „In diesem Bericht wird das Urteil des Schweren Strafgerichtshofes Istanbul als Neuverhandlung bewertet. Außerdem wird ähnlich der Haltung der türkischen Regierung gesagt: ‘Sollte es zur Neuverhandlung kommen, würde das am Ergebnis nichts ändern. Es würde das gleiche Urteil erneut gefällt werden.’ Wie kann so etwas sein. Es gibt nichts, was sich nicht ändern ließe. Alles kann sich ändern. Diese Haltung steht im Widerspruch zur Haltung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. In seinem Urteil hat das Gericht seinerzeit festgestellt, dass mein Recht auf Verteidigung verletzt wurde. Aber vom Europarat hatte ich ohnehin nichts anderes erwartet. Es wurde ein durch und durch politisches Urteil gefällt. Dahinter steckt Deutschland, dessen Rolle ich kurz zuvor dargelegt habe. Das Gewicht Deutschlands in Europa ist bekannt. Dieses Gewicht setzt es zu unserem Nachteil ein. Auch die Zehn-Prozent-Hürde im türkischen Wahlsystem steht damit im Zusammenhang. Es sieht ganz so aus, als bestünde eine verabscheuungswürdige Absprache. Diese Quote ist ein offener Rechtsbruch und steht im Widerspruch zur Gerechtigkeit.“ t


Fußnoten:
1. In Anspielung auf die „Ýttihat ve Terraki“, die völkisch-nationalistische „Partei für Einheit und Fortschritt“ im Osmanischen Reich. Ihre Anführer Enver Pascha und Talat Pascha waren maßgeblich für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich.
2. „Demokratische Kräfte“ in Anlehnung an die „Kuvva-i Millî“, die nationalen Kräfte, den Zusammenschluss verschiedenster Gruppen während des Befreiungskrieges in den 1920-er Jahren.
3. kurdischer Feudalherr im 16. Jh
4. Vorsitzender der nationalistischen kurdischen Partei HAK-PAR
5. Sultan des Osmanischen Reiches (Selim I.) von 1512-1520


aus: ANF NEWS AGENCY vom 2. Januar 2007

Übersetzung aus dem Türkischen