Öcalan:
Europa hat die Kurden verkauft
Öcalan hat
bei der jüngsten Konsultation mit seinen Anwälten, die am 2.
Mai nach vier Wochen der Totalisolation stattfand, eindringlich vor einer
Eskalation der gesellschaftlichen Konflikte gewarnt. Die kurdische Frage
identifizierte er als Hintergrund der aktuellen politischen Krise und
wertete die Haltung Europas als „Verkaufen der Kurden“. Erstmals
erfuhren die AnwältInnen bei der Konsultation auch, dass momentan
eine 20-tägige Bunkerstrafe vollstreckt wird.
„Diese 20-tägige
Bunkerstrafe wurde gegen mich wegen zweier Sätze verhängt, die
ich in einer Konsultation gesagt habe. Seit acht Tagen wird sie vollstreckt,
seit acht Tagen bin ich in Isolation, zwölf Tage liegen noch vor
mir. Ich habe dagegen Widerspruch eingelegt und eine 125-seitige Eingabe
an das Gericht in Bursa geschrieben. Diese Strafe wird wie beim letzten
Mal mit dem Paragrafen „Ausbildung von Mitgliedern der Organisation
und Propaganda“ begründet. Dabei werden alle unsere Konsultationen
aufgezeichnet. Offensichtlich interessieren sich die zuständigen
Stellen für das, was ich sage, und analysieren es.“
Öcalan informierte über den Inhalt dieser Eingabe, die
die Anwälte noch nicht erhalten haben. Schwerpunkt des Textes bilden
seine Friedensbemühungen seit 1993:
„In dieser Eingabe habe ich den Prozess der letzten 14 Jahre, also
seit der Ära Özal, als der Staat erstmals mit mir Kontakt aufnahm,
zusammengefasst. Ich habe meine Bemühungen um Frieden und eine demokratische
Lösung auf der einen Seite und die Versuche, die PKK zu liquidieren
auf der anderen Seite dargestellt. Ich habe anhand der praktischen Erfahrungen
erklärt, dass diese Versuche einer Liquidierung keine Lösung
darstellen können. Am 18. Mai ist es jetzt genau dreißig Jahre
her, dass unser Genosse Haki Karer in Antep ermordet wurde. Ich war damals
in Elazig. Damals gab es eine Gruppe, die sich „Bes Parçacilar1“
nannte. Auch KUK2 tauchte in dieser Zeit auf. Damals
zogen sie eine Linie von Elazig über Malatya, Diyarbakir und Mardin
nach Süden und behaupteten, die PKK könne nicht ostwärts
über diese Linie hinauskommen3. Nach diesen erfolglosen
Liquidationsversuchen kamen andere, die mit den Namen Cihangir Hazir (Sari
Baran), Selim Çürükkaya, Sait Çürükkaya
(Süleyman) und Semdin Sakik (Zeki) verbunden sind. Sie haben viel
Schaden angerichtet, sind schuld am Tod vieler Menschen. Sie waren der
Grund dafür, dass Misstrauen entstand, sie haben der Bewegung sehr
geschadet. Die letzte große Liquidation fand in den Jahren 2003
und 2004 statt. Osman Öcalan und Nizamettin Tas (Botan) haben versucht,
die Bewegung zu liquidieren. Wegen ihnen verließen in der Folge
Hunderte Menschen die Bewegung, sie war damals in großer Gefahr.
Mittlerweile verstehe ich die Gründe dafür besser. Die Pläne
der USA gingen in die gleiche Richtung. Sie wollten von der Türkei,
dass sie ein Amnestiegesetz verabschiedet. In diesem Punkt sind sie sich
aber nicht einig geworden. Am Ende kam eine Art Reuegesetz heraus. Damals
gewährte Talabani dieser Gruppe Unterschlupf. Parallel dazu wurden
in der Türkei einige Parteien als Standbein für diese Richtung
gegründet. So versuchten sie 2003-2004 die Bewegung zu liquidieren.
Osman und den anderen wurden bestimmte Möglichkeiten eröffnet,
und sie haben sich darauf eingelassen. Sie haben sogar geglaubt, ich würde
auf diese Linie einschwenken. Aber durch meine Haltung habe ich ihre Pläne
vereitelt. Und dies war just der Zeitpunkt, ab dem die Bunkerstrafen auf
die Tagesordnung kamen. Diese Bunkerstrafen sind keine juristischen Praktiken,
sondern politische und administrative Repressalien. Ich werde durch diese
Praktiken bestraft. Das ist der eigentliche Grund für die Bunkerstrafen.
Es geht nicht darum, dass ich zum Krieg aufrufe, jeder weiß, dass
ich mich seit vierzehn Jahren um den Frieden bemühe. Das erkläre
ich bei jeder Gelegenheit. In allen meinen Büchern und Eingaben habe
ich versucht, Wege zu einer friedlichen Lösung aufzuzeigen. Ich weise
lediglich auf drohende Gefahren hin.”
Öcalan wies auf die Gefahr hin, dass der Konflikt eskaliert.
„Ich habe in dieser Eingabe geschrieben, dass wir uns in einer höchst
gefährlichen Phase befinden. Wenn jetzt ein Krieg ausbricht, dann
wird er nicht mehr zwischen den Kurden und dem Staat stattfinden, sondern
als gesellschaftlicher Krieg ausbrechen. Ich betone: als gesellschaftlicher
Krieg. Wenn ich auf diese Gefahr hinweise, sagen sie 'Apo will Krieg'.
Das ist nicht wahr. Ich bin hier im Gefängnis. Ich bin überhaupt
nicht in der Position, über Krieg und Frieden zu entscheiden.“
Öcalan erinnerte noch einmal daran, dass die vergangenen Waffenstillstände
jeweils nach Kontakten mit dem Staat zustande gekommen waren.
„Ich habe den Prozess des Dialogs, der 1993 in der Ära Turgut
Özals begann, bis heute fortgesetzt. Mit Özal fing es an, mit
Erbakan ging es weiter. Hier im Gefängnis bin ich mit Ecevits persönlichem
Vertreter zusammengetroffen. Alle wissen, welchen Friedensprozess ich
angestoßen habe, seit ich hier auf Imrali bin, und wie ich ihn durch
meine Bücher verfestigt habe. Doch all dies hat zu nichts geführt.
Dieser Friedensprozess wurde durch die erwähnten Liquidierungsversuche
beantwortet. Doch man muss endlich erkennen, dass man mit dieser Liquidierung
nichts erreicht. Im Sommer 2006 wurde mir zugetragen, dass sowohl bei
zivilgesellschaflichen Organisationen als auch bei Intellektuellen und
bei der Bevölkerung der Wunsch nach Frieden besteht. Daraufhin habe
ich die PKK gebeten, einen weiteren Waffenstillstand zu beschließen4.
All dies ist bekannt, wie kann man also behaupten, ich wolle Krieg?
An Newroz dieses Jahres versuchten die Kriegsbefürworter innerhalb
des Staates, Befürchtungen über einen Aufstand zu schüren.
Während eine Fraktion innerhalb des Staates einen Dialog befürwortet,
gibt es offensichtlich auch Befürworter des schmutzigen Krieges,
des Spezialkrieges. Auch der Konflikt zwischen beiden Fraktionen ist mittlerweile
unübersehbar.“
Kurdische Frage an der Wurzel des Konflikts
Wegen der Bunkerstrafe war Öcalan über die Präsidentschaftswahl
und das „Mitternachts-Memorandum“ der Generäle noch nicht
informiert. Die Diskussionen über Neuwahlen kommentierte er folgendermaßen:
„Vermutlich treffen sich CHP und AKP in den Extremen. Die Nationalisten
und die „Roter-Apfel-Fraktion“ kommen vielleicht in der CHP
in einer Front zusammen. Wahrscheinlich wird bald das Gefeilsche um Wahlbündnisse
beginnen. Auch die DTP sollte sich gut vorbereiten. Sie sollen sich gut
überlegen, ob sie mit unabhängigen Kandidaten antreten oder
eine Wahlbündnis eingehen, und dann eine Entscheidung fällen.
Bei diesem Thema weise ich gerne auf Beispiele für Wahlbündnisse
aus Spanien und Italien hin. Auch jetzt ist es möglich, dass die
wirklichen Linken, Demokraten und Patrioten zusammen antreten. Vielleicht
nutzen sie die Gelegenheit. Wenn die andere Seite aufrichtig interessiert
ist, kann man sogar mit der DYP oder der AKP ein Bündnis eingehen.
Die jetzige Situation ähnelt sehr der von 1946 bis 1950. Damals kandidierten
auch Linke auf der Liste der [rechten] Demokratischen Partei. Aber dieser
Prozess wurde nicht weitergeführt, es kam nicht zu einer wirklichen
Demokratie.
Kein Putsch ohne direkte Unterstützung der USA
„Wenn die USA es nicht direkt unterstützen, kann es keinen
Putsch geben. Die AKP ist durch eine breite Unterstützung an die
Macht gekommen. Dahinter stand auch die Erwartung, dass sie einiges verändern
werde. Allerdings versucht sie seither auch, den Staat auf eine islamische
Grundlage hin auszurichten. Zunächst unterstützte man die Nakschibendi5-Tradition,
um uns zu schwächen. Dann positionierte die AKP Nakschibendi-Kader
überall im Staat. Die AKP glaubte, in der Frage des Staatspräsidenten
den Staat und den Generalstab einschläfern zu können, aber sie
hat sich getäuscht. Der Versuch endete mit dem Memorandum.
Mein Vorschlag ist der einer demokratischen Republik. Die Demokratie ist
kein Widerspruch zur Republik, die Republik ist die Staatsform der Demokratie.
Ohne Demokratie kann die Republik weder ihre Probleme lösen noch
weiter Bestand haben. Eine demokratische Republik war auch das, woran
Mustafa Kemal ursprünglich gedacht hatte. Aber wegen der Bedingungen
zu seiner Zeit gelang es ihm nicht, sie zu verwirklichen. Diejenigen,
die sich heute Kemalisten nennen, haben in Wirklichkeit nichts mit Mustafa
Kemal zu tun. Mustafa Kemal hat die Kurden als Element [der Republik]
akzeptiert. Er hat die Besatzer aus dem Land gejagt, indem er mit den
Kurden ein Bündnis schloss. Die kurdischen Aufstände und die
Interessen und Pläne der Briten in der Region haben dazu geführt,
dass Mustafa Kemal seine Pläne aufschob. Das von ihm „muhtariyet“
genannte Modell sah eigentlich eine Art demokratischer Autonomie vor.
Man muss sich die damaligen Umstände vor Augen führen. Die Republik
war noch jung, gerade erst gegründet, und gab eine erhebliche Paranoia,
das sie gespalten werden könnte. Es bestand die Gefahr, dass [der
letzte Sultan] Vahdettin und mit ihm Kalifat und Sultanat zurückkehren
könnten. Außerdem gab es den Streit [mit den Briten] um Mossul
und Kirkuk. Als genau zu diesem Zeitpunkt die kurdischen Aufstände
losbrachen, ergriff Mustafa Kemal die Panik um den Erhalt der Republik.
Um die Republik zu retten opferte er sogar Mossul und Kirkuk. Beide Städte
gehörten zu dem Gebiet, das durch „Misak-i Milli“, den
Nationalpakt definiert wird. Diesen Nationalpakt darf man nicht unterschätzen.
Die Republik, die gerade erst aus einem Krieg hervorgegangen war, konnte
sich aber auch keinen neuen Krieg leisten. Wenn Mustafa Kemal sich dagegen
sicher gewesen wäre, dass die Kurden wieder mit ihm zusammen kämpfen
würden, hätte er es mit jedem Feind aufgenommen. Mustafa Kemal
war für die Einheit mit den Kurden.
„Einige schlagen schon vor, die Kurden in den Süden
zu vertreiben“
Damals gab es keine Möglichkeit für eine Lösung der kurdischen
Frage auf der Grundlage einer Einheit und mit den Mitteln des demokratischen
Dialogs, weil den Kurden eine starke Führung fehlte. Dieser fehlende
Dialog war auch eine Ursache für die folgenden Aufstände, die
dann brutal niedergeschlagen wurden. Hier rühren auch die Vorurteile
gegen Mustafa Kemal her.
Heute jedoch gibt es solche, die diese Tatsachen erkannt haben und für
eine demokratische Lösung eintreten, und solche, die den Krieg wollen,
der als „Spezialkrieg“ bekannt ist. Auch in der Armee gibt
es die, die eine Lösung wollen, und die, die Krieg wollen. Es gibt
solche, die gegen die Kurden dieselbe Politik betreiben wollen wie seinerzeit
gegen die Armenier und die Griechen6. Einige schlagen
ganz offen vor, die Kurden in den Süden [i. e. Südkurdistan]
zu vertreiben. Folglich kann man davon ausgehen, dass eine großangelegte
Vernichtungspolitik gegen die Kurden betrieben werden soll. Ein Teil soll
vernichtet werden, wer assimiliert werden kann, soll assimiliert werden,
die übrige Masse soll nach Süden getrieben werden. Das ist ein
ungeheuerlicher Plan, und er wird sich unmöglich verwirklichen lassen.
Die Situation der Kurden ist eine andere. Die Kurden sind mittlerweile
in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Es gibt tatsächliche Leute,
die dieses Katastrophenszenario als Lösung für die Türkei
präsentieren wollen. Auf der anderen Seite sind da Leute wie Ex-General
Kenan Evren, die jahrelang gegen uns Krieg geführt haben, aber verstanden
haben, dass der Krieg nicht zu einer Lösung führt.
In türkischen Zeitungen war nun zu lesen, ich hätte Kenan Evren
gelobt, gar als „Genie“ bezeichnet. Das ist nicht wahr. Ich
habe gemeint, dass er eine große militärische Erfahrung besitzt,
er hat immerhin 30 Jahre lang gegen uns gekämpft. Weil er in der
kurdischen Frage an höchster Stelle Partei ergriffen hat und die
Entwicklungen in der Problematik aus nächster Nähe verfolgt
hat, weiß er genau, wo wir heute stehen und hat die Gefahr erkannt.
Wenn Evren so denkt7, dann gibt es auf jeden Fall auch
eine Fraktion innerhalb des Militärs, die so denkt. Für das
Militär hat Evren immer noch große Bedeutung. Dass selbst er
heute an diesem Punkt angekommen ist, heißt, dass man endlich diese
Realitäten erkennen muss. Ich habe auch das Interview mit Mümtazer
Türköne in der Zeitung „Radikal“ gelesen. Er sagt
dort: „Die Kriegsbefürworter sind so furchtbar konditioniert,
dass selbst Evren nach seiner Erklärung Angst bekommen hat.“
Türköne ist selbst ein ehemaliger Parteigänger der MHP.
Doch heute vertritt er einige Ansichten, denen ich zustimme. Erbakan wurde
1997, nachdem seine Regierung mit mir den Dialog aufgenommen hatte, außer
Gefecht gesetzt. Özal kam 1993, als er einen Vorstoß in der
kurdischen Frage machen wollte, auf mysteriöse Art ums Leben. In
einer anderen Zeitung habe ich einen Artikel eines pensionierten Militärs
gelesen. Auch er war einer derjenigen Militärs, die seinerzeit am
meisten die Gewalt befürwortet haben, einer derjenigen, die am härtesten
gegen uns gekämpft haben. Auch er sagte, dass das Problem mittlerweile
nicht mehr mit der Waffe gelöst werden kann. Nicht zu vergessen die
Aufsehen erregende Erklärung des Direktors des Geheimdienstes MIT,
der erklärte, der jetzige starre Nationalstaatsbegriff müsse
flexibler werden. Sein ehemaliger Mitarbeiter Cevat Önes hat sich
dazu noch detaillierter in der Presse geäußert. Den meisten
ihrer Aussagen stimme ich zu. Und dann sind da noch die Erklärungen
Mehmet Agars. Es sieht aus, als sei auch er an einem realistischen Punkt
angekommen, er hat sogar das Benelux-Modell ins Gespräch gebracht.
Offensichtlich befindet sich also der Staat in der kurdischen Frage in
einem Dilemma. Auch während der Präsidentschaftswahl hat sich
gezeigt, wie festgefahren die Situation ist. Die Spannungen, die wegen
der Sorge um Säkularismus und Laizismus aufgebaut werden, haben etwas
Künstliches. Das eigentliche Problem ist die Herangehensweise an
die kurdische Frage. Die eigentliche Sorge der Kriegsbefürworter
ist die Möglichkeit, dass die AKP in der kurdischen Frage eine Reform
anpacken könnte."
"Die EU hat ein Abkommen mit der Türkei: Die PKK muss ignoriert
werden"
Das beharrliche Schweigen der EU zum Thema politische Lösung
sowie die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte und die Beschlüsse des Ministerkomitees des Europarats
wertete Öcalan als Zeichen für eine Übereinkunft der europäischen
Staaten mit der Türkei.
"Europa hat ein Abkommen mit der Türkei. Und ich behaupte sogar,
dass es ein offizielles Abkommen ist. Entsprechend diesem Abkommen ist
die PKK in Ungnade gefallen. Das muss allen klar sein. Als Gegenleistung
hat die Türkei ihre gesamte Wirtschaft den europäischen Ländern
geöffnet. Deutschland hat angefangen, Großaufträge zu
erhalten. Es folgten Großbritannien, Frankreich, Italien und die
anderen Staaten. Auch sie bekommen langsam einen Teil vom Kuchen ab. So
wurden die Kurden ganz offen verkauft. Der Verkauf der Kurden bedeutet
den Ausverkauf der Türkei. Die Türkei hat sich durch ihre wirtschaftliche
Öffnung gegenüber dem Ausland viermal stärker verschuldet
als zur Zeit der Düyun-u Umumiye8. Und diese Leute
nennen sich „Anhänger Mustafa Kemals“. Hätte Mustafa
Kemal sich so verhalten? Wurden zu seiner Zeit nicht die Schulden gestrichen?
Es wird oft kritisiert, dass die besten Grundstücke Ausländern
nachgeworfen werden, aber wenn es nach diesen Leuten geht, würden
sie die gesamte Türkei verschleudern.
Am Beschluss des Ministerkomitees des Europarats zur Wiederholung meines
Gerichtsverfahrens hat sich dies ganz klar gezeigt. Trotz des Urteils
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass das Verfahren
nicht frei und fair war, hat das Ministerkomitee mit einer politischen
Entscheidung von oben herab die Wiederaufnahme des Verfahrens verhindert.
Das Ministerkomitee behauptet, ich hätte meine Schuld gestanden,
doch das ist definitiv unwahr. Was ich getan habe, waren aufrichtige Bemühungen
um eine Lösung des Konflikts. Dies als „Geständnis“
zu bezeichnen, ist inakzeptabel. Alles, was ich gesagt und getan habe,
galt dem Frieden und einer politischen Lösung. In der letzten Zeit
habe ich mehrmals „Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung“
vorgeschlagen. Auch diejenigen, die auf Seiten des Staates in Verbrechen
verstrickt waren, müssten vor diesen Kommissionen aufrichtig ihre
Schuld eingestehen und Selbstkritik leisten. Das wäre wie eine Art
Amnestie mit Auflagen. In Südafrika haben Menschen, die große
Verbrechen begangen haben, so selbstkritische Aussagen gemacht. In der
Türkei könnte man mit Menschen wie Tansu Çiller oder
Mehmet Agar so verfahren.“
Öcalan bedankte sich für die Glückwünsche zu seinem
Geburtstag, der am 4. April an vielen Orten in Kurdistan gefeiert wurde,
unter anderem mit einem großen Zug in seinem Geburtsort Amara (Ömerli):
„Vielen Dank an alle, die teilgenommen haben, besonders die Frauen,
Kinder und Jugendlichen.“
Öcalan erinnerte noch einmal daran, wie schon bei seiner Auslieferung
an die Türkei viel Geld floss:
„Es hätte kein besseres Geschenk als mich geben können,
um die historische türkisch-griechische Feindschaft beizulegen. An
Russland hat man damals zehn Milliarden Dollar gezahlt. Außerdem
wurde das Projekt „Mavi Akim“ (blauer Strom) vereinbart9.
Russland brauchte dringend Geld. Auf der anderen Seite wurde der Weg für
Barsani und Talabani freigemacht, das ist seither besser klar geworden.
All das darf man nicht vergessen.“
Er wiederholte auch seine Warnung, er sei dem gesellschaftlichen Frieden
verpflichtet, werde sich aber nicht länger in die Beschlüsse
der PKK einmischen, wenn die massiven militärischen Angriffe trotz
des Waffenstillstands fortgesetzt werden:
„Es ist auf keinen Fall wahr, dass ich Krieg will. Ich möchte,
dass das besonders die türkische Öffentlichkeit versteht, die
türkischen Intellektuellen, die türkische Linke. Alle meine
Bemühungen gelten einer demokratischen, friedlichen Lösung.
Dafür habe ich alles getan, was in meiner Macht steht. Aber wenn
man in dieser Weise gegen die PKK und die Kurden vorgeht, werde ich in
das, was sie dann erwidern, nicht einmischen. Das werden sie selbst entscheiden.
Ich sehe es als meine Pflicht an, diese Warnung auszusprechen. Es ist
eine Tatsache, dass die Gefechte zunehmen werden, wenn man gegen das kurdische
Volk vorgeht. Meine Bemühungen jedoch dienen alle dem gesellschaftlichen
Frieden.“
Zum Schluss des
Gespräches wandte er sich an die Hungerstreikenden, die seit dem
11. April in Straßburg für die Entsendung einer medizinischen
Delegation des europäischen Antifolterkomitees nach Imrali kämpfen.
„Den Freunden, die sich im Hungerstreik befinden, sage ich folgendes:
Sie sollen es auf keinen Fall so weit bringen, dass ihr Leben gefährdet
wird und sie Schaden nehmen. Und auch als Reaktion auf die Bunkerstrafe
soll niemand Aktionen wie Selbstverbrennung oder ähnliches machen.
Ich bin ganz klar gegen solche Dinge. Widerstand sollte man leisten, indem
man lebt und sich anstrengt. Im übrigen ist offensichtlich, wie gefährlich
die momentane Situation ist. Die militärischen und zivilen Freunde,
die in der Türkei, in Europa und anderswo sind, sollen sich selbst
gut schützen. Und ich tue hier, was ich kann. Ich grüße
alle mit Liebe.“
(Übersetzung:
Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan
– Frieden in Kurdistan“)
1Etwa:
Anhänger der “Fünf-Teile-Theorie”. Diese besagte,
dass Kurdistan auf fünf Länder aufgeteilt ist, inklusive der
Sowjetunion.
2Kürdistan Ulusal Kurtulusçulari, etwa “nationale
Befreier Kurdistans”, eine Abspaltung der KDP. Beide Gruppen waren
kurdisch-nationalistisch und bekämpften die linke PKK.
3Die damals noch namenlose Gruppe, die später zur
PKK werden sollte, kam überwiegend von Universitäten in Ankara,
also quasi von Westen. Haki Karers Ermordung gab den Ausschlag, sich stärker
zu organisieren und als Partei zu konstituieren.
4Die Bunkerstrafe wurde wegen genau diesem Aufruf verhängt.
5Sunnitische Bruderschaft, die in Kurdistan besonders
einflussreich ist. Viele führende AKPler, darunter Erdogan, gelten
als Mitglied der Nakschibendi.
6Gemeint sind die massenhafte Vertreibung und Ermordung
von Armeniern ab 1915, der mehrere Pogrome vorausgegangen waren, die Vertreibung
der Griechen nach dem I. Weltkrieg und die antigriechischen Pogrome 1955
in Istanbul
7Der ehemalige Putschist und Staatspräsident Evren
hatte Fehler in der Behandlung der kurdischen Frage eingeräumt und
eine Art föderales Modell für die Türkei vorgeschlagen.
Nationalisten haben deswegen Strafanzeige gegen ihn wegen Hochverrats
gestellt.
8Nach dem Staatsbankrott 1876 geschaffene Institution,
die für die Abzahlung der Schulden an die europäischen zuständig
war und bis 1928 Bestand hatte.
9Ein Vertrag über Gaslieferungen, dessen Konditionen
für die Türkei extrem ungünstig waren.
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