Öcalan:
Das Recht ist hier außer Kraft gesetzt
(ANF, 11.05.2007)
Während die 20-tägige Bunkerhaft weiter andauert, konnte Abdullah
Öcalan am 9. Mai wieder mit seinen Anwälten zusammentreffen.
Er unterstrich dabei zum wiederholten Male seine Bemühungen für
eine friedliche Lösung und forderte, seine jüngst verfasste
schriftliche Verteidigung den Anwälten auszuhändigen.
Zu Beginn
der Konsultation informierte Öcalan über seinen Gesundheitszustand.
„Die Ärzte sagen, dass der Sekretfluss in meinem Hals von einer
Sinusitis stamme. Dagegen habe ich Medikamente erhalten, das ich nun einnehme.
Es handelt sich also um Medikamente für die Atmung. Das Pfeifen im
Ohr geht weiter. Ich weiß nicht, was der Grund dafür ist, das
muss untersucht werden. Am Bauch, an der Leiste, an meinen Schultern und
an anderen Stellen sind Flecken aufgetaucht, von denen die Ärzte
sagen, dass es Pilze seien. Gegen diese Flecken und den Juckreiz am Körper
haben sie mir ein Spray gegeben. Wenn ich es benutze, wird der Juckreiz
weniger, wenn die Wirkung nachlässt, kommt er wieder zurück.
Der Juckreiz tritt besonders bei Kontakt mit der Luft auf.
Zu dem seit
11. April in Straßburg stattfindenden Hungerstreik und den Forderungen,
eine unabhängige Delegation müsse die Vergiftungsvorwürfe
untersuchen, erklärte Öcalan:
„Es geht nicht nur um meine Vergiftung, sondern um die Isolation
überhaupt. Die Vergiftung muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.“
Er kritisierte
die Willkür, der er im Gefängnis ausgesetzt ist, insbesondere
die immer noch andauernde Bunkerstrafe und die Tatsache, dass seine Eingabe
nicht an die Anwälte weitergeleitet wurde:
„Diese zwanzigtägige Bunkerstrafe muss vor den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden. Es sollte sogar eine
einstweilige Verfügung erwirkt werden. Und nicht nur der EGMR und
die internationalen, auch die inländischen juristischen Institutionen
müssen eingeschaltet werden. Hier wird vollstreckt, ohne dass ein
Urteil gesprochen ist. Wo soll das hinführen? Ich kann meine Rechte
nicht mehr wahrnehmen. Wo bleibt da das Recht? Ich habe auch nach dem
Strafvollzugsgesetz Rechte, ich kann nicht einmal diese mehr wahrnehmen.
Ich habe eine 125-seitige Eingabe geschrieben, plus eine Seite Anhang,
weil mir auch Briefe nicht ausgehändigt werden. Die wenigen, die
ich ausgehändigt bekomme, sind geschwärzt, weil sie mich respektvoll
mit 'Herr' anreden. Dabei ist das doch selbstverständlich. In dieser
Sache und wegen der Nichtaushändigung der Eingabe sollten alle juristischen
Hebel in Bewegung gesetzt werden.“
„Schon vor meiner
Entführung wurde das Recht außer Kraft gesetzt. Griechenland
wollte durch meine Auslieferung profitieren, die türkisch-griechischen
Beziehungen verbessern. Genauso wollte Russland aus meiner Auslieferung
Nutzen schlagen, sie haben dadurch Milliarden von Dollar verdient. In
meiner Eingabe ist nachzulesen, wie das Recht in der EU, Griechenland,
Russland und Kenia gebeugt worden ist.“
Die 125-seitige
Beschwerdeschrift gegen die Bunkerhaft, die dem Anwaltsteam immer noch
nicht ausgehändigt wurde, enthält laut Öcalan Passagen,
die bestimmte Leute in Schwierigkeiten bringen könnten.
Diese Verteidigungsschrift ist nicht nur für uns, sondern eigentlich
auch für den Staat wichtig. Ich glaube, sie ist mir gut gelungen.
Ich habe einen Großteil meiner Ansichten einfließen lassen,
es ist so etwas wie ein Manifest geworden. Man kann sie als Buch drucken.
Sie enthält auch einen theoretischen Rahmen, das ist sicher auch
für die Linke interessant. Meine Analyse knüpft an Immanuel
Wallerstein und Murray Bookchin an, ist aber praxisbezogener und bietet
konkrete Lösungen an. Viel Zeit hatte ich nicht, sie zu schreiben.
Sie dreht sich um die Frage, wie ein gesellschaftlicher Frieden erzielt
werden kann, was der beste Lösungsweg dafür ist.
Ein Exemplar dieser Schrift geht wahrscheinlich an den Staat. Vermutlich
sorgt sie dort bereits für Diskussionen. Im Staat gibt es diejenigen,
die den Krieg fortsetzen wollen, diese Richtung reicht auch bis in die
Bewegung hinein. In Politik und Bürokratie gibt es solche, die dafür
die Verantwortung tragen. In dieser Verteidigungsschrift werden einige
Fakten offen gelegt. Das mag bestimmte Leute in Schwierigkeiten bringen.
Dies könnte ein Grund dafür sein, warum einige verhindern wollen,
dass sie ausgehändigt wird. Ich gehe darin auf den Friedens- und
Dialogprozess ein, der seit gut 14 Jahren, seit der Kontaktaufnahme Özals
stattgefunden hat, und was es für Bemühungen gab, diesen Dialog
zu sabotieren. Lösungsvorschläge und und die Konsequenzen dieser
Lösung führe ich in acht Punkten auf, ebenso die Konsequenzen,
die eintreten, wenn es nicht zu einer Lösung kommt. Wenn es Schritte
hin zu einer demokratischen Lösung gibt, dann kann es wieder zu einem
Rückzug der Guerilla aus dem Territorium der Türkei kommen.
Also, wenn wirklich Schritte unternommen werden. Ich treffe also Feststellungen
und mache Lösungsvorschläge, aber das wird als „Befehle“
interpretiert. Das ist nicht richtig, ich treffe Vorhersagen und sage:
„Wenn dies passiert, dann wird entweder das oder das passieren.“
Es gibt keinen Grund, sich über meine Verteidigung aufzuregen. Diese
Beschwerdeschrift stößt auch für den Staat die Tür
zu einer Lösung auf. Seit Jahren verhindert man, dass das Problem
wirklich gelöst wird.
Ich spreche mich klar
gegen einen Nationalstaat aus. Trotzdem versucht eine kleine Minderheit
innerhalb des Staates [das Gegenteil zu suggerieren und] eine Lösung
zu verhindern. Dabei haben diese Leute mit Türkentum gar nichts zu
tun. Es gibt sogar Kurden darunter. Das türkische Volk wäre
mit einem Massaker an den Kurden keinesfalls einverstanden. Und auch wir
hegen keinerlei Feindschaft gegen die Türken. Meine Großmutter
Havva war Türkmenin. Aber diese Gruppe versucht beharrlich, einen
Völkermord gegen die Kurden anzuzetteln. Sie wollen mit den Kurden
das tun, was sie bereits mit den Armeniern und den Griechen getan haben,
und glauben, so das Problem aus der Welt schaffen zu können. Aber
sie können die Kurden nicht so loswerden wie die Armenier und die
Griechen, sie können die Kurden nicht vernichten. Wo wollen sie 25
Millionen Menschen denn hin vertreiben? Die Kurden im Süden haben
sich gut vorbereitet, sich organisiert. Amerika hat die Kurden dort mit
allen möglichen Waffen ausgerüstet, sie auf jede erdenkliche
Art unterstützt. Diese Leute verstehen das nicht. Sie versuchen,
die Türkei in eine große Falle zu locken. Das „Time Magazine“
hat geschrieben, dass eine Invasion in Südkurdistan ein strategischer
Fehler wäre, ganz richtig. Es wäre ein verhängnisvoller
Fehler. So lässt sich das Problem nicht lösen. Wer es so lösen
will, richtet großen Schaden an.
Es sind Tscherkessen
darunter, Araber, Kurden, Balkanstämmige, Dönme1, aber praktisch
keine anatolischen Türken. Wie die osmanischen Janitscharen2 bestehen
sie aus Nicht-Türkischstämmigen. Sie sind die Ittihadci3 von
heute, die Neo-Ittihadci.
„Wenn
es eine Lösung gibt, werden die Waffen natürlich niedergelegt“
Seit Jahren bemühe ich mich geduldig und maßvoll um den Frieden.
Ich will den sozialen Frieden. Meine Ansichten dazu habe ich bereits 1999
in meinen Thesen über die „demokratische Republik“ dargelegt.
Wenn ich jedoch von Frieden rede, heißt es: „Apo hat Angst“
oder „Apo lässt sich manipulieren“. Nein, ich habe keine
Angst, und ich lasse mich auch nicht hereinlegen. Ich bin sowohl aus politischen
als auch aus moralischen Gründen gegen den Krieg. Der Gegenseite
ist es nicht gelungen, die PKK auszulöschen. Jetzt denken sie, sie
könnten sie liquidieren und vernichten, indem sie auf mich Druck
ausüben. Aber wie können sie von mir erwarten, dass ich einfach
so zum Niederlegen der Waffen und zur Kapitulation aufrufe? Ich habe schon
mehrfach erklärt, dass die Waffen natürlich niedergelegt werden,
wenn der Weg zu einer Lösung beschritten wird. Das ist überhaupt
kein Problem. Ich habe im September die PKK zum einseitigen Waffenstillstand
aufgerufen, was diese auch befolgt hat. Seither hat keinerlei Schritt
hin zu einer Lösung stattgefunden, die PKK ist mit breitesten Militäroperationen
angegriffen worden. Dieser Krieg hat 400 Milliarden Dollar gekostet, vielleicht
gibt es Leute, die noch einmal 400 Milliarden ausgeben wollen.
Seit Wochen
finden in der Türkei große nationalistische Demonstrationen
„für die Republik“ statt. Öcalan kommentierte den
dahinter stehenden Nationalismus.
Auch dahinter stehen die Gruppen, die als „Roter-Apfel-Fraktion“
bezeichnet werden. Die meisten von ihnen sind gar keine Türken, sie
haben mit Türkentum nichts zu tun. Es handelt sich um eine kleine,
aber gut organisierte Zahl von zivilen Bürokraten und Politikern,
die auf ihren eigenen Vorteil aus sind. Auch dieses Thema führe ich
in der Verteidigungsschrift breit aus. Diese Fraktion hatte auch im Befreiungskrieg
großen Einfluss. Tscherkess Ethem4 und seine Leute kamen bis nach
Ankara und haben das Parlament gestürmt. Er drohte sogar einmal,
Mustafa Kemal zu vernichten. Auch der [tscherkessischstämmige] Oberst
Talat Aydemir hat versucht zu putschen5. Premierminister Ismet Inönü
sagte damals: „Im Unabhängigkeitskrieg sind sie uns zur Plage
geworden, und sie sind immer noch eine Plage. Wir sind sie nicht losgeworden.“
Es sind wenige, aber sie sind gut organisiert und haben eine Tendenz zu
putschen.
Mustafa Kemals Mentalität
war eine andere. Mustafa Kemal hat zunächst mit den Kurden ein Bündnis
geschlossen. Er hat die Staatsschulden (Düyun-u Umumiye) annulliert,
hat den Befreiungskrieg geführt, ohne von irgendjemand dafür
Geld zu erhalten. Einer der Briefe, die mir ausgehändigt worden sind,
enthält eine Recherche zu diesem Thema. Mustafa Kemal war von Mitgliedern
des Komitees für Einheit und Fortschritt umgeben, sie haben seinen
Einfluss begrenzt, versucht, ihm die Luft zu nehmen. Auch damals gab es
eine Gruppe, die keine Lösung wollte, und so gingen sie hart gegen
die Kurden vor. Später sagte einer von ihnen sogar zu Kiliç
Ali: „Ob wir wohl mit der Gewalt übertrieben haben?“.
Die Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt verübten
in Izmir und anderswo Attentate auf Mustafa Kemal. Dazu findet sich einiges
in den empfehlenswerten Büchern von Ömer Lütfi Mete und
Mahir Kaynak. Auch Mümtaz Türköne schreibt dazu wichtige
Sachen. Das ist deswegen wichtig, weil er selbst ein Nationalist ist.
Ich habe auch Nihal Atsiz6 und dergleichen gelesen. Atsiz ist Kulturnationalist,
er wurde 80 Jahre alt, sein halbes Leben verbrachte er im Gefängnis.
Die Neo-Ittihatci sind die Enveristen7 von heute. Sie besetzen zentrale
Positionen im Staat und wollen diese Macht und die daraus erwachsenen
Vorteile nicht aus der Hand geben. Ich rede von zivilen Bürokraten
und einigen Politikern. Die Bevölkerung muss das erfahren. Die Mehrzahl
dieser Neo-Ittihadci sind keine Türken, sondern Araber, Kurden, Tscherkessen
und Balkanstämmige. Das hat mit den Türken nichts zu tun. Die
Bevölkerung von Anatolien ist nicht feindlich gesinnt. Auch wir sind
niemandem feindlich gesinnt. Auch der Kolumnist Avni Özgürel
schreibt kenntnisreich über diese Themen.
Öcalan
gab einige persönliche Einschätzungen zu den bevorstehenden
Parlamentswahlen ab, bei denen Linke und Kurden mit unabhängigen
Kandidaten antreten werden. Besonders betonte er die Bedeutung weiblicher
Kandidatinnen.
Zwischen uns und den Türken gibt es keine Probleme. Eine demokratische
Zusammenarbeit ist gut möglich. Es wird wohl schon aus Zeitgründen
nicht mehr möglich sein, gemeinsam unter dem Dach einer Partei zu
den Wahlen anzutreten. Besonders wichtig finde ich, dass viele Frauen
kandidieren. Bei der Kandidatenauswahl sollte man darauf achten, fähige
Menschen auszuwählen, die gut arbeiten werden. Vierzig Abgeordnete
sollten wohl zu schaffen sein. Zusammen mit demokratischen Kandidaten
im Westen der Türkei könnten es noch mehr werden.
Öcalan nannte
einige Bücher, die er gerne lesen möchte: „Das Universum
des Lichts, Die Geburt des modernen Menschen. 'Eine kurze Geschichte der
Pflanzen' habe ich bereits, jetzt möchte ich 'Eine kurze Geschichte
der Tiere'. Ich bekomme viele Briefe, ich kann nicht allen antworten.
Daher auf diesem Wege allen meine Grüße.“
Übersetzung
und Anmerkungen:
Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan
– Frieden in Kurdistan“
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