Sehr geehrter Herr Bundeskanzler 
 

Anfang Dezember vergangenen Jahres haben wir Ihnen unsere Sorge darüber mitgeteilt, dass hinter den Bemühungen und Aktivitäten zur juristischen Verfolgung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan das zentrale Problem der verzweifelten Situation des kurdischen Volkes in der Türkei in den Hintergrund treten könnte. Wir haben Ihnen die Idee einer Internationalen Kurdistankonferenz vorgeschlagen und unsere Mitwirkung bei der Vorbereitung und Durchführung angeboten. Leider haben wir bis jetzt darauf keine Antwort erhalten. 
Erlauben Sie uns deshalb, dass wir uns angesichts der dramatischen Entwicklung der Odyssee um Herrn Öcalan und der Reaktion der kurdischen Bevölkerung in Europa noch einmal an Sie wenden. 

Angesichts der schlechten Erfahrung, die türkische Oppositionelle mit der Justiz ihres Landes gemacht haben, und der Tatsache, dass Herr Öcalan offensichtlich im Zusammenspiel mehrerer Geheimdienste und unter Verstoß gegen geltendes Völkerrecht in die Türkei verschleppt worden ist, ist ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 5. Juni 1998 die Staatssicherheitsgerichte in der Türkei - und vor ein solches soll Herr Öcalan gestellt werden - als mit Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar qualifiziert hat. Da diese rechtsstaatlichen Mängel praktisch nicht heilbar sind, halten wir es für den einzig vertretbaren Weg, dass Herr Öcalan vor ein internationales Gericht gestellt wird, welches ihm ein faires Verfahren und eine effektive Verteidigung gewährleistet. 

Darüber hinaus möchten wir aber noch einmal unsere Sorge an Sie herantragen, dass hinter diesem spektakulären Prozeß die kurdische Frage weiterhin dem türkischen Militär überlassen wird. Dürfen wir Sie daran erinnern, dass Sie seinerzeit gemeinsam mit Außenminister Fischer und dem italienischen Ministerpräsidenten dÀlema Schritte zur politischen Lösung der Kurdenfrage angemahnt haben? Da wir seitdem keine Konkretisierung und keinen weiteren Vorschlag in diese Richtung gehört haben, möchten wir Sie noch einmal mehr dringend bitten, ihre Mahnung in die Tat umzusetzen und auch unter den europäischen Regierungen für eine Einstellung des Krieges und eine friedliche emanzipatorische Lösung der Kurdenfrage zu werben. Wir sind der Überzeugung, dass die Konferenz in Madrid, Wye Plantation, Dayton und Rambouillet überzeugende Beispiele für eine diplomatische Friedenspolitik sind, die sich auch für den Kurdenkonflikt anbieten. 

Wenn die gewalttätigen Ausscherungen aus der kurdischen Bevölkerung eines belegen, dann die Verzweiflung über die eigene Ohnmacht und die tiefe Enttäuschung über die Untätigkeit der europäischen Regierungen angesichts der trostlosen Situation ihrer Landsleute in der Türkei. Verzweiflung und Enttäuschung paaren sich zunehmend mit dem Gefühl einer nicht nachzuvollziehenden Ungleichbehandlung vergleichbarer politischer Prozesse: Wenn Iren, Bosnier, Albaner, Palästinenser auf internationales Friedensengagement auch unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland hoffen können, dann entsteht eine politische Messlatte, an der sich alle friedensorientierten Staaten messen lassen müssen. Wir werden vor Gewalt in Europa nur sicher sein, wenn die Gewalt dort verhindert wird, wo sie entstanden ist und immer wieder von neuem entsteht, in der Türkei, und zwar nicht durch immer stärkere Gewalt, sondern durch entschiedene emazipatorische Schritte. 

Wir hoffen, dass Sie unsere Besorgnis teilen, und wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns über Ihre Vorstellungen informieren würden. 
 
 

Mit freundlichen Grüßen 

Prof. Dr. Ronald Mönch 

Prof. Dr. Norman Paech