"Ich könnte jederzeit umgebracht werden"
Zur Lage in der Türkei nach der Verschleppung Öcalans
Der Saal ist gut gefüllt, Radio-, Fernsehstationen und Zeitungen,
sie alle haben ihre JournalistInnen geschickt. Mit ihnen füllen auch
Polizei und Geheimdienste, die in und um das Gebäude, mit und ohne
Uniform vertreten sind, den Saal. Vor dem Eingang haben sich Schlägertrupps
der faschistischen MHP versammelt, die in Deutschland unter dem Namen
"Graue Wölfe" agieren. Vor laufenden Kameras und vor den Augen der
Polizei attackieren sie die nahenden Anwälte und Anwältinnen
Öcalans, die hier eine Pressekonferenz abhalten möchten.
Zwei von ihnen war es am Vortag trotz erheblicher Gefährdung gelungen,
dem PKK-Vorsitzenden auf der Gefängnisinsel Imranli einen Kurzbesuch
abzustatten. Der Insel haftet die zweifelhafte Tradition an, daß
der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der Türkei,
Adnan Menderes, 1961 dort von einem Staatssicherheitsgericht wegen Amtsmißbrauchs
verurteilt und exekutiert wurde.
Einer der beiden AnwältInnen die kurz mit ihrem Mandanten sprechen
konnten ist Ahmed Zeki Okcuoglu, der seit langem schon als PKK-Kritiker
bekannt ist. Ahmed Zeki Okcuoglu kennt den PKK-Vorsitzenden noch aus früheren
Zeiten. Die beiden haben während ihrer Studienzeit zusammen in einer
Wohngemeinschaft gelebt. Danach trennten sich ihre Wege, bis die Ereignisse
sie am vergangenen Donnerstag in jenem Raum auf der Gefängnisinsel
wieder zusammenführten. Doch nicht die alten Bande sind es, die Okcuoglu
bewogen haben, Öcalans Verteidigung zu übernehmen. Er habe das
Videoband im Fernsehen gesehen, das den PKK-Vorsitzenden im Flugzeug Nairobi
nach Istanbul und später mit verbundenen Augen vor der türkischen
Flagge zeigt. Diese Bilder, die alle Kurdinnen und Kurden zutiefst beleidigen,
hätten für Okcuoglu den Ausschlag gegeben, zusammen mit seiner
Frau Eren Keskin, ebenfalls Anwältin und Vizevorsitzende des Menschenrechtsvereines
IHD, die Verteidigung Öcalans zu übernehmen.
Ähnlich ging es weiteren 15 AnwältInnen, die sich trotz massiven
öffentlichen Drucks zu diesem Schritt bereit fanden. Osman Baydemir,
ebenfalls Vizevorsitzender des IHD; M. Selim Okcuoglu und Aysel Tugluk
von der Rechtsforschungsstiftung TOHAV; sowie die AnwältInnen Hatice
Korkut, Irfan Dündar, Imam Sahin, Medeni Ayhan, Ahmed Avsar, Mükrime
Tepe, Gül Altay, Derya Bayir, Dogan Erbas, Filiz Kostak, Cihan Erbas
und Immihan Yasar.
Einen Tag vor der Pressekonferenz war es Ahmed Zeki Okcuoglu nach mehreren
Anläufen endlich möglich, gemeinsam mit Hatice Korkut die Erlaubnis
zu bekommen, ihren Mandanten nach zehn Tagen Haft, endlich aufzusuchen.
Bereits zwei Tage zuvor hatte er es erfolglos mit Osman Baydemir, Eren
Keskin und zwei weiteren KollegInnen versucht. Mit Verweis auf das schlechte
Wetter wurden sie von örtlichen Beamten und Sicherheitskräften
zurückgewiesen und mußten - von einer aufgebrachten Ansammlung
von MHP-Leuten bedroht - unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Am Donnerstag gelang es Okcuoglu und Korkut zwar, den PKK-Vorsitzenden
für zwanzig Minuten zu sehen, ein Gespräch über die Verteidigung
war ihnen jedoch nicht möglich. In Begleitung eines Haftrichters
und zweier maskierter Soldaten, die jedes Wort protokollierten, durften
sie Öcalan lediglich zu seinem Gesundheitszustand befragen. Öcalan
berichtete, daß er rund um die Uhr verhört werde. Okcuoglu
berichtete nach der Rückkehr, Öcalan habe gesundheitlich einen
akzeptablen Eindruck gemacht und lediglich über Augen- und Ohrenschmerzen
geklagt. Er sei als Anwalt jedoch besorgt über mögliche psychische
Auswirkungen der Isolation und der Dauerverhöre.
Auf dem Rückweg von der Insel wurden die AnwältInnen in der
Hafenstadt Mudanye erneut vom faschistischen Mob angegriffen und mit Steinen
beworfen.
"Die Verteidigung ist niedergelegt," verkündete Ahmed Zeki Okcuoglu
folglich auf der Pressekonferenz des Folgetages. "Der türkische Staat
garantiert meine Sicherheit nicht. Ich könnte jederzeit umgebracht
werden - nicht nur mir selbst, sondern auch meinen Angehörigen ist
massiv gedroht worden. Wir werden die Verteidigung nur fortsetzen, falls
die Vereinigten Staaten unsere Sicherheit garantiert." Es bestehe die
Gefahr einer Lynchjustiz. Der Anwalt führte weiter aus, daß
auch Kollegen und ihre Familien anonyme Anrufe und Todesdrohungen erhalten
hätten. Berichten zufolge seien auch Unbeteiligte mit demselben Familiennamen
belästigt worden.
Sein Kollege Osman Baydemir war kurz zuvor auf dem Weg zur Pressekonferenz
von der Polizei festgenommen worden. Öcalan habe im Verhör behauptet,
daß Baydemir ein PKK-Mann sei, berichteten türkische Medien.
Wie Baydemir war es in der vergangenen Woche bereits sieben Anwälten
von TOHAV ergangen, die in Diyarbakir festgenommen wurden.
In zahlreichen Stadtteilen fast aller Städte der Türkei haben
nach der völkerrechtswidrigen Verschleppung des PKK-Vorsitzenden
Proteste stattgefunden. Parallel zu flächendeckenden Protesten erschüttert
eine Verhaftungswelle gegen die zivile Opposition das ganze Land. In den
mehrheitlich kurdischen Städten Diyarbakir, Adana, Malatya, Iskenderum,
Mardin, Batman, Aydin, Kayseri, Izmir, Van, Mersin, Urfa, Gaziantep, Elazig
und Istanbul prägen Straßenschlachten das tägliche Bild.
In Diyarbakir wurde auf DemonstrationsteilnehmerInnen geschossen. Auch
in Istanbul erteilte der Polizeichef den Befehl, Demonstrierenden in die
Beine zuschießen. Die Protestierenden errichteten Barrikaden und
steckten Autoreifen in Brand. Insbesondere in den Außenbezirken
der größeren Städte herrschte nach Einbruch der Dunkelheit
Ausnahmezustand. Molotowcocktails flogen durch die Luft, mit Gasflaschen
beladene LKWs, zahlreiche PKW's, mehrere Geschäfte und eine Tankstelle
gingen in Flammen auf.
Militär und Polizei haben die öffentlichen Verkehrsverbindungen
zu diesen Stadtteilen unterbrochen. Spezialeinheiten der Polizei griffen
wahllos Jugendliche auf und nahmen sie fest. Bis heute finden laufend
Hausdruchsuchungen statt. Es wurde beobachtet, daß Sicherheitskräfte
Kurden aus ihren Autos zerrten und verprügelten.
In Istanbul wurde der Mesopotamische Kulturverein von der Polizei durchsucht
und geschlossen. Das gesamte Archiv, Bücher, Zeitschriften und dem
Verein gehörende Akten, wurde beschlagnahmt. Der Kulturverein Med-Kom
wurde ebenso von Polizeieinheiten überfallen wie die Radiostationen
Özgür Radyo, Umut Radyo und Yön-FM. Auch Büros des
IHD wurden angegriffen.
In der kurdischen Metropole Diyarbakir sind die KleinhändlerInnen
in den Ausstand getreten. Ihre Läden blieben geschlossen. Die Polizei
nahm 200 LadenbesitzerInnen fest und öffnete bis zu 1000 Läden
gewaltsam. Im Viertel Huzurevieri wurde auf die Polizei, die die Jalousien
von Läden gewaltsam öffnen wollte, geschossen. Auch die Schüler-
und Studentenproteste dauern an. Viele Eltern weigern sich, ihre Kinder
zur Schule zu schicken.
Auch in Batman hat der überwiegende Teil der HändlerInnen ihre
Geschäfte geschlossen. Der zuständige Gouverneur versuchte,
in Zusammenarbeit mit der Militärführung von Batman die LadenbesitzerInnen
dazu zu zwingen, ihre Geschäfte wieder zu öffnen. Einige Läden
wurden gewaltsam geöffnet.
In Mersin wurde der Stadtteil Cay Mah am 22.2. abgeriegelt. Spezialeinheiten
haben die Häuser durchsucht und 40 Menschen festgenommen. Die Satellitenantennen
wurden zerstört. Während der Nacht verhängten die Behörden
in diesem Stadtteil den Ausnahmezustand. Spezialeinheiten wurden in den
Schulen und Ambulanzen stationiert.
Auch in den Gefängnissen verstärkte sich der Widerstand. Zahlreich
politische Gefangene traten in den Hungerstreik. Auch die früheren
DEP-Abgeordneten Hatip Dicle, Leyla Zana, Selim Sadak und Orhan Dogan,
die in Ankara inhaftiert sind, haben sich dem Hungerstreik angeschlossen.
12 Gefangene in unterschiedlichen Gefängnissen zündeten sich
aus Protest an. Ein Gefangener starb.
Zeitgleich begann eine landesweite Verhaftungswelle gegen die prokurdische
Partei HADEP. Alle HADEP-Büros und die Parteizentrale in Istanbul
wurden von der Polizei gestürmt. Insgesamt wurden alleine in Istanbul
500 Mitglieder festgenommen. Die Bibliothek der Parteizentrale wurde zerstört.
Das Gebäude ist immer noch besetzt. Auch in anderen Städten,
so in Mardin, Kiziltepe, Elazig, Urfa, Hakkari, Kayapinar, Nizip, Bingöl,
Malatya, Mersin, Iskenderum und Antep wurden HADEP-Büros überfallen
und Mitglieder verhaftet, darunter auch KandidatInnen für die kommende
Parlamentswahl am 18. April. In Mersin hat die Polizei aus dem Büro
heraus türkische Flaggen aufgehängt. Frauen, die sich zu dieser
Zeit im Gebäude aufhielten, wurden von Polizisten sexuell belästigt.
Während der Demonstrationen wurden nach Angaben des Menschenrechtsvereines
bis zum 24. Februar landesweit 3369 Menschen inhaftiert. 61 erlitten teilweise
schwere Verletzungen, 3 Menschen verloren ihr Leben.
Neben den Massenverhaftungen an zivilen Oppositionellen zieht die türkische
Regierung weitere Register der Aufstandsbekämpfung. Im Siegesrausch
versucht sie die Verwirrung der kurdischen Organisationen zu nutzen die
gesamte demokratische Opposition auf einen Schlag zu erledigen.
Gegen die Partei HADEP wurde ein sofortiges Betätigungsverbot ausgesprochen.
Als Begründung mußten angebliche Aussagen Öcalans herhalten,
daß HADEP vollständig von der PKK kontrolliert werde. Seit
dem Wochenende verbreiten türkische Medien die Nachricht, Öcalan
habe im Verhör erklärt, auch die Menschenrechtsvereine IHD und
der islamische Mazlum-Der befänden sich vollständig unter Kontrolle
der PKK. Es ist daher damit zu rechnen, daß die Menschenrechtsvereine
das nächste Ziel auf der Liste darstellen werden.
Auf der psychologischen Ebene zielt Ankara darauf ab, die gesamte kurdische
Bevölkerung durch gezielte Demütigungen zu desillusionieren.
Seit der Verschleppung Öcalans strahlen die türkischen Fernsehsender
pausenlos ein kurzes Video auf allen Kanälen aus, das den PKK-Vorsitzenden
in entwürdigender Weise bei seiner Überführung in die Türkei
zeigt.
Zeitgleich verbreiten die Medien angebliche Aussagen aus den Verhören
des PKK-Chefs. So wird behauptet, Öcalan appelliere an die Guerillakämpfer,
sich zu ergeben. Flugblätter mit dem angeblichen Öcalan-Appell
werden von Flugzeuge zu Hunderttausenden über den Bergen Kurdistans
abgeworfen, um die KämpferInnen zur Kapitulation zu bewegen.
Gleichzeitig ruft auch Ministerpräsident Bülent Ecevit GuerillakämpferInnen
auf, ihre Waffen niederzulegen und sich zu stellen. Er kündigte ein
sogenanntes Reuegesetz an, das den KolaborateurInnen teilweise Straffreiheit
und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zusichern werde. Er rufe
die "jungen Menschen in den Bergen und den Höhlen auf, ihre Familien
und ein humanes Leben zurückzugewinnen", verkündete Ecevit.
"Reicht uns die Hände und helft mit bei der Entwicklung unseres Volkes."
Flankiert wird das Versprechen nach persönlicher Straffreiheit mit
der Ankündigung umfangreicher wirtschaftlicher Investitionen im Kriegsgebiet,
die dort infrastrukturelle Defizite, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus
und die gesundheitliche Unterversorgung bekämpfen sollen.
Unterdessen sind türkische Streitkräfte zu einer erneuten Großoffensive
in das nordirakische Südkurdistan einmarschiert. Dabei sollen 10
000 Soldaten im Einsatz sein.
Auch in Nordkurdistan weiten sich die Kämpfe aus. Sie richten sich
derzeit hauptsächlich gegen die protestierende Zivilbevölkerung.
Die militärische Aufstandsbekämpfung findet unter Ausschluß
der Öffentlichkeit statt. Die kurdischen Gebiete der Türkei
dürfen von ausländischen JournalistInnen nicht mehr betreten
werden. Diese werden in Diyarbakir zur Umkehr gezwungen.
Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Repression feierte die
Mehrheit der türkischen Öffentlichkeit den Sieg den sogenannten
"Babymörder". In Erzurum und Kirikkale zogen organisierte Menschenansammlungen
mit Musikinstrumenten durch die Straßen. Auf Friedhöfen fanden
Gedenkveranstaltungen für gefallene Soldaten statt. Öcalans
Festnahme sei der Triumph der großen Türkei, lautete der Titel
des Massenblatts "Hürriyet".
Knut Rauchfuss
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