Die Woche, 25. Juni 1999
„Wir wollen den Krieg beenden“
Der Europa-Chef der PKK, Ferhan Harran, plädiert für einen
türkisch-kurdischen Friedensdialog – und droht mit verschärftem
Kampf, falls Öcalan stirbt
Die Woche: Herr Öcalan hält zurzeit vor dem türkischen
Gericht sein Schlussplädoyer. Hat sich in der PKK die Verwirrung
über sein widersprüchliches Auftreten gelegt?
Ferhan Harran: Innerhalb der Organisation gab es kein Verwirrung. Der
Grund für solche Spekulationen war wohl, dass die Führungsebene
der PKK bei Prozessbeginn auf Öcalans Aussagen vor Gericht nicht
gleich reagiert hat. Aber es war völlig richtig, dass sich zuerst
der Präsident äußerte, dann der Präsidialrat, die
Führungsebene unter ihm.
Die Woche: Wussten sie vorher, was Öcalan sagen würde?
Harram: Nein, er war ja in Isolationshaft. Wir wußten nur, dass
er vor allem über Demokratie und Frieden reden würde.
Die Woche: Auch dass er ausplaudern würde, wer die PKK unterstützt
hat – Griechenland, Jugoslawien, die griechisch-orthodoxe Kirche?
Harran: Das nicht.
Die Woche: Und wie reagiert die Basis der PKK darauf, dass ihr Vorsitzender
auf einmal behauptet, die Türkei sei sein Freund?
Harran: Öcalan hat seit 1993 mehrfach erklärt, dass er die kurdische
Frage auf demokratischem und friedlichem Weg lösen will. Bis heute
hat die PKK dreimal einen Waffenstillstand proklamiert. Sein Friedensappell
war also nichts Neues.
Die Woche: In der Türkei haben inhaftierte PKK-Leute daraufhin die
türkische Fahne aus dem Fenster gehängt, auch in Europa waren
Anhänger der PKK verunsichert, einige nannten Öcalan einen „Verräter“.
Harran: Die Inhaftierten in der Türkei waren Verräter, die sich
schon vorher von der PKK losgesagt hatten. Die Kurden – gerade die, die
den Kampf kennen, deren Familien in Kurdistan leben und deren Angehörige
in den Bergen starben – dürsten nach Frieden. Aber es fällt
einem schwer, auf einmal auf den Friedensprozess einzuschwenken, wenn
im Fernsehen türkische Mütter toter Soldaten auftreten und die
Kurden beschimpfen. Einige haben vielleicht auch nicht verstanden,
was Öcalan meint. Wenn er sagt, er liebe die Türkei, meint er
natürlich nicht das politische System dort. Öcalan möchte
eine demokratische Republik, die die kurdische Frage lösen will.
Auch die türkische Regierung braucht Frieden. Wir versuchen, diesen
Krieg zu beenden. Wenn Ankara nun einen Schritt nach vorne macht, dann
hat sie in uns einen Verbündeten.
Die Woche: Welchen Schritt?
Harran: Die PKK hat die Forderungen erhoben: Erstens, dass Öcalan
nicht hingerichtet und das ihm friedliche politische Arbeit ermöglicht
wird. Zweitens die Verankerung der Kurden als Volk und ihre Rechte in
der türkischen Verfassung. Drittens ein Parlament, in dem Türken
und Kurden sitzen. Viertens die Anerkennung der kurdischen Sprache und
Kultur, Presse- und Meinungsfreiheit. All das innerhalb der bestehenden
Grenzen; es wird ja immer gesagt, die PKK wolle einen eigenen Staat: das
stimmt nicht. Fünftens eine Amnestie für die PKK-Leute im Gefängnis.
Sechstens die Aufhebung des Ausnahmezustandes in den kurdischen Gebieten
und die Möglichkeit für die Kurden, in ihre alten Wohngebiete
zurückzukehren. Das sind unsere Forderungen.
Die Woche: Und wenn diese Erfüllt würden?
Harran: Dann wird die PKK versuchen, auch wieder in der Türkei auf
legaler Ebene zu arbeiten.
Die Woche: Die PKK-Kämpfer würden ihre Waffen niederlegen?
Harran: Wenn Frieden herrscht, braucht man keine Waffen mehr.
Die Woche: In Kurdistan wird zwischen PKK und türkischem Militär
weiter gekämpft, und die Nationalisten verbuchten bei den Wahlen
große Erfolge. Sehen Sie denn eine Möglichkeit, mit der Regierung
Ecevit ins Gespräch zu kommen?
Harran: Wir hoffen darauf. Aber es besteht die Gefahr, dass die türkische
Regierung keine Antwort gibt.
Die Woche: Welches Urteil für Herr Öcalan erwarten Sie?
Harran: Es ist für mich schwer, etwas dazu zu sagen. Wenn man sich
die Äußerungen des türkischen Militärs anschaut,
der Politiker, der Presse, müssen wir mit einem Todesurteil rechnen.
Sehr wahrscheinlich wird es auch vollstreckt. Wir versuchen nun die türkische
Regierung beizubringen, dass das ein großer historischer Fehler
wäre.
Die Woche: Wie wird die PKK auf die Hinrichtung reagieren?
Harran: Für die Türkei hieße das, dass der Krieg zwischen
Kurden und Türken, der seit 15 Jahren andauert, weitergehen und noch
eskalieren wird. Vielleicht werden wir viele Verluste haben, aber das
türkische Volk wird auch viele Tote beklagen müssen. In den
letzten 15 Jahren des Kampfes sind 40 000 Menschen gestorben. Wenn es
jetzt keinen positiven Schritt der Türkei gibt, werden in den nächsten
15, 20 Jahren vielleicht weitere 200 000 Menschen sterben. Aber dafür
sind dann nicht wir verantwortlich. Wir versuchen, diesen Krieg endlich
zu stoppen. Das will auch Öcalan. Entweder die kurdische Frage wird
gelöst, oder es wird für viele auf dem Friedhof enden.
Die Woche: Ist das ein Ultimatum?
Harran: Nein. Es ist das, was passieren wird. Wenn ein Friedensprozess
in Gang kommt und positiv ausgeht, werden wir den Kampf beenden. Wenn
nicht, wird der Kampf verstärkt. Was auch immer passiert, wir sind
sehr gut vorbereitet.
Die Woche: In welcher Hinsicht?
Harran: In der Türkei wird die Guerilla eine große Rolle spielen.
Unser Kampf wird künftig nicht nur in Kurdistan stattfinden, sondern
vor allem in den türkischen Metropolen.
Die Woche: Die PKK ist doch militärisch so gut wie am Ende.
Harran: Nein. Im Gegenteil. Gerade seit Öcalans Verschleppung haben
die Kämpfer wieder großen Zulauf. Und hier in Europa werden
wir verstärkte politische Arbeit zur Unterstützung des Kampfes
leisten.
Die Woche: Was verstehen Sie unter politischer Arbeit?
Harran: Europa ist für uns kein Angriffsziel. Wir kritisieren an
den europäischen Ländern zwar, dass sie Öcalan kein Asyl
gewährt haben: Europa ist dafür verantwortlich, dass er in die
Türkei verschleppt wurde. Aber hier wird es keine Gewalt geben. Anderseits
ist die kurdische Bevölkerung auch hier sehr eng verbunden mit Öcalan.
Wenn das Todesurteil proklamiert und vollstreckt wird, wird es sehr schwer
sein, die Kurden hier unter Kontrolle zu halten.
Die Woche: Und was passiert, wenn Öcalan zwar zum Tode verurteilt,
aber nicht hingerichtet wird?
Harran: Wenn Öcalan lange Jahre im Gefängnis sitzt, ohne hingerichtet
zu werden, wäre das eine Chance, die Kurdenfrage auf friedliche,
demokratische Art und Weise zu lösen. Aber es sollte nicht zu lange
dauern.
Die Woche: Nach Prozessbeginn appellierte die PKK-Führung an Die
EU und die USA, Druck auf die Türkei auszuüben. Was könnte
ein Appell Europas denn bewirken?
Harran: Wir erwarten von Europa, dass es die Rechte der kurdischen Bevölkerung
unterstützt und Druck auf die Türkei ausübt. Aber die EU-Länder
haben keine klare Linie: Manchmal machen sie Druck, dann wieder unterstützen
sie die Türkei.
Die Woche: Ist die Person Öcalan überhaupt noch wichtig für
die PKK?
Harran: Es gab mehrere Vorschläge von internationaler Seite, die
kurdische Frage ohne die PKK und Öcalan zu lösen. Aber das geht
nicht. Wir wollen die anderen kurdischen Organisationen nicht ausschließen.
Der Kampf um die kurdische Sache wird aber von der PKK betrieben. Sie
wird von der Bevölkerung unterstützt. Und sie sieht ihre Zukunft
in Abdullah Herr Öcalan. Es gibt da eine sehr enge Verbundenheit.
Die Woche: Wenn Öcalan so unentbehrlich ist – wird die PKK ohne ihn
auseinanderfallen?
Harran: Natürlich wäre es für uns wichtig, dass die Führung
der PKK weiter durch ihn vertreten wird. Aber Öcalan ist nicht nur
eine Person. Wenn er im Gefängnis ist, heißt das noch lange
nicht, dass seine Organisation zusammenbricht. Es läuft alles trotzdem
weiter: seien Politik, die Linie, die Ideologie. Man sollte Öcalan
eher als System ansehen. Dieses System wird weiter existieren.
Die Woche: Wird es einen Nachfolger für Öcalan geben?
Harran: Seit der Verschleppung Öcalans hat der Präsidialrat
alle Entscheidungen getroffen. Manche denken ja, dass, wenn Öcalan
liquidiert wird, innerhalb der PKK Kämpfe um die Führung ausbrechen.
Ernst Uhrlau, Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, hat sogar die
Vermutung geäußert, nach dem Tod von Öcalan werde die
PKK zersplittern. Wer so etwas sagt, kennt die straffe Organisation der
PKK nicht. Die hat einen großen Zusammenhalt und lässt sich
nicht auseinander dividieren. Der Präsidialrat wird weiterhin die
Partei führen.
Die Woche: Manche Kurden fordern, die PKK solle den bewaffneten Kampf
auf jeden Fall beenden und versuchen, ihre Ziele nur noch auf politischem
Weg zu erreichen. Sehen Sie das als Möglichkeit?
Harran: Es wäre nicht richtig, den Kampf um jeden Preis zu stoppen.
Wir haben Tausende Opfer, 4 Millionen Kurden wurden entvölkert, unsere
Heimat ist zerstört. Jetzt den Kampf aufzugeben, ohne etwas gewonnen
zu haben, das kann man nicht akzeptieren – auch wenn der Frieden noch
so schön wäre.
Interview: Mark Spörrle, Souad Mekhennet
Ferhan Harran (42) ist türkischer Abstammung und nach Angaben
der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) deren Europa-Chef. Harran
verbrachte neun Jahre in türkischen Gefängnissen.
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