Warum unterstützen Sie als Türkin die Kurden?
junge Welt sprach mit Nebahat Dertli
(Nebahat Dertli ist Vorsitzende des Volkshauses der Türkei e.V.
in Hamburg)
F: Wie bewerten Sie die Reaktion der kurdischen Bevölkerung in
Deutschland auf die Entführung von Abdullah Öcalan?
Die Stimmung der Kurden in Deutschland und in Kurdistan kann man nicht
voneinander trennen. Diejenigen, die im Exil leben, sind mit ihren Gedanken
in der Türkei, in Kurdistan. Dort leben ihre Verwandten und Freunde.
Die Kurden waren zunächst überall wie gelähmt, standen unter
Schock. Ich bin keine Kurdin, sondern Türkin, doch ich habe genauso
empfunden. Dann kam die Angst. Das Verschwindenlassen von Oppositionellen
und die Folter sind in der Türkei etwas Alltägliches. Jetzt fürchteten
alle, daß es noch schlimmer wird. Die türkischen Medien entfachten
eine Pogromstimmung, und die Faschisten tanzten auf den Straßen.
In einem solchen Klima machen sich die Menschen Sorgen um ihre Angehörigen,
um das Leben ihrer Kinder. Ich erhielt Anrufe von Freunden aus der Türkei.
Einige drohten damit, sich umzubringen. Andere machten mir Vorwürfe,
weil wir in Europa nicht dafür gesorgt hätten, daß Abdullah
Öcalan hier aufgenommen und geschützt wird. Die Menschen waren
völlig verzweifelt. Die ersten Aktionen in Europa waren Ausdruck eben
dieser Verzweiflung. Ich habe mich natürlich an den Protesten beteiligt.
Das alles war doch wohl kein »Kurden-Krieg«. Die Menschen haben
keine Waffen, sondern nur ihre eigenen Körper eingesetzt. Es gab niemals
einen Aufruf, hier zu kämpfen und Menschenleben zu gefährden.
Und Gewalt ist immer die Gewalt des Stärkeren gegen den Schwächeren.
Da hätten die deutschen Behörden durchaus besonnener reagieren
und damit etwas zur Beruhigung der Lage beitragen können.
F: Halten Sie die Bundesregierung für mitverantwortlich an der
Eskalation?
Natürlich ist die Bundesregierung mitverantwortlich. Sie arbeitet
nur noch mit Drohungen. Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Abschiebungen
sollen die Kurden einschüchtern und davon abhalten, für ihre
Rechte zu kämpfen. Aber es gibt eine noch schwerwiegendere Verantwortung.
Die Bundesregierung hat die Chance, den Konflikt in Kurdistan friedlich
zu lösen, nicht ergriffen. Mit der Ankunft Abdullah Öcalans in
Europa hätte eine Zeit der Verhandlungen und Gespräche beginnen
können. In Deutschland gab es einen Haftbefehl gegen ihn. Ich möchte
nicht falsch verstanden werden: Ich bin nicht für eine Anklage, aber
das ist hier nicht wichtig. Wenn die Gesetze in Deutschland es so vorsehen,
hätten sie ihn hier anklagen sollen. Sie beachten noch nicht einmal
ihre eigenen Gesetze. Sicher spielte bei ihrer Entscheidung der Gedanke
der Inneren Sicherheit eine Rolle. Sie wollten sich nicht mit den Kurden
in Europa auseinandersetzen. Außerdem wäre die Beweislage in
einem Prozeß gegen den PKK-Vorsitzenden dürftig gewesen, und
irgendwann hätte die Türkei mit auf der Anklagebank gesessen.
Darauf habe ich gehofft. Das wäre der Beginn einer politischen Lösung
des Konfliktes gewesen. Die USA hätten sicher versucht, dieses zu
verhindern. Sie wollen kurdische Bewegungen aufbauen und unterstützen,
die kontrollierbar sind. Masud Barzanis KDP in Südkurdistan ist dafür
ein gutes Beispiel. Die macht das, was ihr vom Westen diktiert wird. Die
PKK dagegen wird bekämpft und soll vernichtet werden.
F: Hat die PKK den Kampf verloren?
Nach der Entführung Abdullah Öcalans sind die Kurden überall
aufgestanden. Auf der ganzen Welt hat es Proteste gegen dieses internationale
Komplott gegeben. Die PKK ist nicht besiegt. Die Entführung hat ihr
Ziel verfehlt. Die USA und die Türkei haben das falsch eingeschätzt.
Die Kurden sind sich wieder einiger geworden. Und Öcalan hat sehr
viele Öcalans hervorgebracht, die den Kampf fortsetzen. Auch der Versuch,
die PKK und Abdullah Öcalan zu trennen, wird zu keinem Ergebnis führen.
Selbst wenn der PKK-Vorsitzende jetzt unter Folter und Drogen nicht mehr
in der Lage ist, das kurdische Volk als Präsident zu vertreten, seine
Ideen haben weiter Gültigkeit.
F: Was fordern Sie für Abdullah Öcalan und die anderen Gefangenen
in der Türkei?
Als erstes natürlich die Lebensgarantie, nicht nur für die
Gefangenen, sondern für das ganze kurdische Volk. Die von dem PKK-Vorsitzenden
im türkischen Fernsehen gezeigten Bilder beweisen, daß er Drogen
verabreicht bekommt. Es muß eine internationale Ärztekommission
gebildet werden, die seinen Gesundheitszustand regelmäßig überwacht.
An dieser sollte sich Deutschland beteiligen. In den letzten Wochen sind
in der Türkei Hunderte Menschen von der Polizei und dem Militär
an unbekannte Orte verschleppt worden. Hier sind die internationalen Menschenrechtsorganisationen
aufgefordert, Nachforschungen anzustellen. Und die Bundesregierung sollte
endlich aufhören, mit Drohungen und Repressionen zu reagieren. Niemand
darf in die Türkei abgeschoben werden, und die Kriminalisierung der
hier lebenden Kurden muß aufhören.
F: Von der sind Sie ja auch betroffen. Ihre beiden 16 und 17 Jahre alten
Söhne befinden sich seit der Besetzung des Hamburger SPD-Büros
in Untersuchungshaft.
Seit 22 Jahren leiste ich Widerstand gegen das türkische Regime.
Wir mußten vor politischer Verfolgung aus der Türkei
fliehen. Seit zehn Jahren leben wir jetzt in Deutschland. Ich habe
meine Kinder immer dazu erzogen, die Wahrheit zu sehen. Meine Kinder sind
in einer politischen Familie großgeworden. Der Ältere engagiert
sich seit drei Jahren im Hamburger Komitee zur Unterstützung der Samstagsmütter
in Istanbul - für die Mütter, die jeden Samstag für ihre
verschwundenen Söhne und Töchter demonstrieren. Er hat mitgefühlt,
er hat sich selbst mit dem Schicksal der Verschwundenen identifiziert.
Nie hat er jemandem Gewalt angetan. Bei der Besetzung des SPD-Büros
ist keinem Menschen etwas passiert. Doch meine Kinder mußten in Deutschland
erfahren, was Gewalt ist. Wir haben jetzt das erste Mal für sie die
Koffer gepackt. Nicht für eine Reise. Für das Gefängnis.
Seit zehn Jahren läuft unser Asylverfahren, die ganze Zeit durften
auch die Kinder Hamburg nicht verlassen. Darunter haben sie sehr gelitten.
Sie mußten Diskriminierung ertragen, die Erniedrigungen, nur weil
ihre Haare schwarz sind. Das ist Gewalt.
Interview: Jörg Hilbert, Hamburg