Griechischer Bericht zur Festnahme von Öcalan
Botschafter in Kenya bricht Schweigen
H. G. Athen, 7. März
Ein ausführlicher Bericht des griechischen Botschafters in Nairobi
an das Athener Aussenministerium hat am Wochenende endlich Klarheit über
die Rolle der griechischen Führung bei der Überführung des
Kurdenführers Abdullah Öcalan nach Kenya sowie bei seiner dortigen
Überantwortung an ein ungewisses Schicksal geschafft. Der Bericht
von Botschafter Georges Kostoulas beschreibt von Anfang an eine zweifelhafte
Vorgehensweise der für das Fiasko im Fall Öcalan Verantwortlichen.
Es kann nun kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass der PKK-Chef
aus Griechenland nach Kenya gebracht wurde, ohne dass dort Voraussetzungen
für sein sicheres Verbleiben oder die Weiterleitung an einen anderen
Zufluchtsort geschaffen worden waren. Später drängte Athen
auf einen regelrechten Hinauswurf Öcalans aus der Botschafterresidenz
und entsandte dazu eine eigene Gruppe von Agenten nach Nairobi, als längst
klar war, dass bereits Geheimdienste von Drittländern auf Öcalan
lauerten.
Die Aufzeichnungen des Botschafters erhärten weiter den Verdacht,
dass diese Weisungen keineswegs nur von einzelnen Ministern in Überschreitung
ihrer Befugnisse - das ist nach wie vor die offizielle griechische Version
- ausgesprochen worden waren, sondern dass sie Regierungspolitik dargestellt
haben. Unter Tarnnamen ist in dem Dokument von den «drei Sängern»
- die inzwischen entlassenen Minister - sowie vom «grossen Sänger»
die Rede, mit dem kein anderer als Ministerpräsident Simitis gemeint
sein kann. Der Inhalt des Berichts deckt sich fast vollständig mit
den früheren Aussagen der griechischen Öcalan-Anwälte, die
von einer Quasi-Auslieferung des PKK-Chefs an die türkische MIT sprachen,
und den Behauptungen einer Kurdensprecherin, wonach es eine Verschwörung
zu seiner Überführung in den Gewahrsam der Türkei gegeben
habe. Von griechischer Regierungsseite war das bisher als «undankbare
Verleumdung» hingestellt worden. Mit den neuesten Enthüllungen
ist die politische Zukunft der Regierung Simitis vor dem Parteitag der
Sozialisten, der am 18. März beginnt, und im Hinblick auf die Europawahlen
im Juni erneut in Frage gestellt.
FR, 08.03.1999
Der Ärger mit Oma
Das Tagebuch des griechischen Botschafters in Kenia enthüllt,
wie PKK-Chef Öcalan in türkische Hände fiel
Von Gerd Höhler (Athen)
„Schmeißt die Oma raus, notfalls mit Gewalt!“ Diese Order gab
das Athener Außenministerium am 14. Februar der griechischen Botschaft
in Nairobi. „Oma“, das war der Codename für den PKK-Chef Abdullah
Öcalan, der sich damals seit fast zwei Wochen in der Residenz des
Botschafters versteckt hielt. 24 Stunden später war „Großmutter“
Öcalan in der Hand türkischer Geheimagenten.
Was sich während des Aufenthalts des PKK-Führers in Nairobi
zutrug, hielt der griechische Botschafter Jorgos Kostoulas in einem Tagebuch
fest, das jetzt als dienstlicher Bericht über die Vorgänge dem
Außenministerium vorliegt. Die Athener Zeitung Ta Nea veröffentlichte
am Samstag die als „streng geheim“ klassifizierte Chronik. Wie das Blatt
an den Text kam, ist unklar. Seine Authentizität wird jedoch vom griechischen
Außenministerium nicht bestritten.
Ein wenig vorteilhaftes Licht wirft der Bericht vor allem auf den inzwischen
zurückgetretenen Außenminister Theodoros Pangalos und dessen
Bürochef Vassilis Papajoannou. Aber auch Ministerpräsident Kostas
Simitis stehen neue innenpolitische Stürme bevor.
Die Aufzeichungen des Botschafters belegen: Außenministerium
und Geheimdienst behandelten den Fall Öcalan mit unbegreiflicher politischer
Fahrlässigkeit und diplomatischem Dilettantismus. Politisch
brisant vor allem: Die bisher von der Athener Regierung gegebene Darstellung,
Öcalan haben entgegen dem Rat der Griechen die Residenz verlassen,
sich den kenianischen Behörden anvertraut und sei deshalb in die Hände
türkischer Agenten gefallen, trifft offenbar nicht zu. Botschafter
Kostoulas berichtet, sowohl das Ministerbüro als auch der griechische
Geheimdienst hätten ihn tagelang massiv bedrängt, Öcalan
loszuwerden, egal wie, und sei es „mit Gewalt“. Der Bürochef des Außenministers
habe sogar telefonisch Weisung gegeben, den PKK-Chef notfalls zu betäuben,
in einem Bettlaken aus der Residenz zu schaffen und vor irgendeinem Hotel
auf die Straße zu setzen.
Öcalan war am 28. Januar von griechischen Freunden nach Athen
eingeschleust worden. Doch die griechische Regierung wollte ihn möglichst
schnell wieder loswerden, um keine Verwicklungen mit Ankara zu riskieren.
Mehrere Versuche, für Öcalan Aufnahme in den Niederlanden, Italien
oder der Schweiz zu finden, scheiterten. Daraufhin verfiel Außenminister
Pangalos auf die abenteuerliche Idee, Öcalan und seine drei Begleiter
nach Kenia zu bringen. Botschafter Kostoulas wurde vom Ministerbüro
lediglich die Ankunft von sechs „Reisenden“ avisiert, die er am Flughafen
von Nairobi abzuholen und „für einige Tage“ zu beherbergen habe. Die
Gäste, so Bürochef Papajoannou, wollten auf Safari gehen. „Sorgen
Sie für Löwen und Tiger“, lautete die Weisung des damals noch
zu Scherzen aufgelegten Athener Ministerialbeamten.
Als das vom griechischen Geheimdienst gecharterte Flugzeug am Vormittag
des 2. November in Nairobi eintrifft und Botschafter Kostoulas die „Safari-Gäste“
in Empfang nimmt, fällt er aus allen Wolken. Kostoulas erkennt sofort,
um wen es sich handelt: Abdullah Öcalan, vier Begleiterinnen und den
in Athener Diplomatenkreisen als Türkei-Experten nicht unbekannten
griechischen Geheimdienstler Savvas Kalenderides. Während sich der
PKK-Chef und seine Begleitung in der Residenz des Botschafters versteckt
halten, versuchen griechische Diplomaten und Geheimdienstler, ihm politisches
Asyl auf den Seychellen oder in Südafrika zu beschaffen, vergeblich.
Auch der Plan, Öcalan Aufnahme in einem griechisch-orthodoxen Kloster
in Kenia zu beschaffen, scheitert.
Die kenianischen Behörden hatten frühzeitig herausbekommen,
wer der unter dem Namen Lazaros Mavros mit einem gefälschten zyprischen
Paß eingereiste Gast des Botschafters wirklich war. Auch US-amerikanische
und türkische Agenten beginnen nun, die Residenz rund um die Uhr zu
beobachten. Der mit Öcalan nach Nairobi geflogene griechische Geheimdienstmann
Kalenderides wird telefonisch von seinen Vorgesetzten in Athen bedrängt,
Öcalan vor die Tür zu setzen. Er müsse „Oma“ so schnell
wie möglich loswerden, lautet die Order. Kalenderides verweigert das.
Daraufhin fliegt der griechische Geheimdienst am 14. Februar ein
vierköpfiges Spezialistenteam nach Nairobi ein, das den PKK-Chef aus
der Residenz schaffen soll, notfalls mit Gewalt. Die vier Geheimdienstler
kommen unbewaffnet nach Nairobi. Die Öcalan-Begleiterinnen aber verfügen
über Schußwaffen. Außerdem wird bei ihnen ein geheimnisvoller
Koffer ausgemacht - ein Sprengsatz, wie die Griechen fürchten. Die
Agenten kapitulieren: „Zugriff nicht möglich“, es drohe ein Blutbad,
telefoniert Joannis Bombos, Chef des Teams, der Behörde in Athen durch.
Die Aktion wird abgebrochen.
Tags darauf, am 15. Februar, stellen die Kenianer dem griechischen
Botschafter ein Ultimatum: Öcalans Anwesenheit sei bekannt, er müsse
bis zum Nachmittag des gleichen Tags das Land verlassen. Man sei bereit,
ihm ein Flugzeug für die Reise in ein Land seiner Wahl zur Verfügung
zu stellen. Bleibe Öcalan, wisse man nicht, was in der nächsten
Nacht passieren könne, drohen die Kenianer.
Botschafter Kostoulas eröffnet Öcalan, daß er ausgeflogen
werden soll.
Der weigert sich zunächst: „Ich gehe nirgendwohin, ich bleibe
hier!“ Nach langem Hin und Her willigt er schließlich ein, sich von
den Kenianern nach Amsterdam ausfliegen zu lassen. Dort hofft er Asyl zu
finden. Was Botschafter Kostoulas nicht weiß: Während die Beamten
des kenianischen Außenministeriums Öcalan den Flug „in ein Land
seiner Wahl“ versprechen, steht das Reiseziel längst fest. Am Flughafen
von Nairobi wartet seit vier Tagen ein türkisches Spezialkommando
mit einem startbereiten Falcon-Jet.
Am späten Nachmittag des 15. Februar fährt vor der Residenz
eine Autokolonne vor. Abdullah Öcalan wird in einen blauen Toyota
Land Cruiser gesetzt. Botschafter Kostoulas will zusteigen, aber die Kenianer
verhindern das. Auch die Begleiterinnen Öcalans müssen in einem
anderen Wagen Platz nehmen. Die Kolonne fährt los, aber schon nach
kurzer Fahrtstrecke schert der blaue Land Cruiser aus und verschwindet.
Am Flughafen angekommen, suchen Botschafter Kostoulas und die Öcalan-Begleiterinnen
vergeblich nach ihrem Schützling. Zu diesem Zeitpunkt haben die Kenianer
Öcalan bereits den Türken übergeben. Botschafter Kostoulas
fährt mit einem Taxi in seine Residenz zurück und meldet nach
Athen: „Wir haben die Oma verloren.“