Aus den Trauernden wird ein wütender Mob
Die Anwälte von PKK-Chef Öcalan entgehen beim Prozeß
in Ankara knapp der Lynchjustiz
Ankara (taz) - Zu Hunderten waren sie angereist, um ihre Trauer und
Verzweiflung zu demonstrieren und um Rache zu nehmen, irgendwie: Am zweiten
Tag des Prozesses gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan, der am vergangenen
Donnerstag am Staatssicherheitsgerichthof in Ankara stattfand, spielten
die Angehörigen der im Kampf gegen die PKK gefallenen Soldaten die
Hauptrolle. Menschen mit zerfurchten Gesichtern drängten sich vor
dem Gerichtsgebäude; manche hatten sich die türkische Fahne wie
einen riesigen Latz um den Hals gebunden, die Fahne, in die der Leichnam
ihres Sohnes eingewickelt war, als er zu ihnen zurückkam. Wie in einer
Prozession zogen sie in das Gerichtsgebäude ein, gerahmte Bilder ihrer
Söhne beschwörend in die Höhe haltend. Doch Öcalan,
das eigentliche Objekt ihres Hasses, war aus Sicherheitsgründen auf
der Gefängnisinsel Imrali geblieben. So verwandelten sich die verzweifelten
Menschen unversehens in einen Lynchjustiz suchenden Mob, als sie die Verteidiger
sahen. Schreiend stürzten sie sich auf die Rechtsanwälte in ihren
Roben, warfen mit Geld nach ihnen, mit Gläsern, Schlüsseln, mit
allem, was zur Hand war. Die zahlreich angetretene Polizei ging dazwischen,
schützte die Anwälte notdürftig, und ging mit den rasenden
Menschen geradezu liebevoll um.
Im Saal selbst ging es um Verfahrensfragen: Die Namen der 500 Nebenkläger
sowie die ihrer 40 Anwälte wurden verlesen. Die Nebenklage beantragte
einen größeren Saal für die Verhandlung auf Imrali, da
der für den Prozeß vorgesehene Raum nur etwa 100 Zuschauern
Platz bietet. Der Antrag wurde abgelehnt, denn aus Sicherheitsgründen
sei die Bereitstellung eines größeren Raums nicht möglich.
Der Antrag eines der 17 Verteidiger von Öcalan, der Prozeß solle
in der kurdischen Stadt Diyarbakir stattfinden, da die zu verhandelnden
Taten in der dortigen Region verübt worden seien, löste Tumulte
im Saal aus. Der Vorsitzende Richter versuchte, den Saal räumen zu
lassen, doch die sonst so durchsetzungsfähige Polizei war nicht in
der Lage, das durchzuführen: Niemand will hier ein Foto von einem
Angehörigen eines Opfers der PKK im Polizeigriff: Sie sind zur Zeit
die Helden der Nation. Der eigentliche Prozeß wird am 31. Mai auf
Imrali beginnen. Ausländische Beobachter werden nicht zugelassen.
Nach knapp zwei Stunden war alles vorbei. Von einer rechtsstaalichen
Verteidigungsmöglichkeit könne nicht die Rede sein, klagte Wesley
Gryk von amnesty international. Eine Weile warteten die Angehörigen
noch vor dem Gerichtsgebäude, um erneut die Verteidiger anzugreifen.
Als das Gros der Familienangehörigen abgezogen war, wurden die Verteidiger
in einem Gefangenentransporter von dem Gelände gebracht. Am Abend
erklärten, sie seien dabei geschlagen worden - von der Polizei.
Antje Bauer