Die Anklageschrift gegen Öcalan hat 20 000 Seiten
Unter intensiven Sicherheitsvorkehrungen beginnt am Montag der Prozeß gegen den PKK-Chef
Von Frank Herrmann
ISTANBUL, 28. Mai. An der Mole des kleinen Hafens liegt ein Kriegsschiff der türkischen Marine. Kommandos erschallen. Die Sirene eines Polizeiautos heult. Mit der Ruhe ist es in Mudanya vorbei. Normalerweise kommen ab Mai Großstädter zum Ausspannen in den beschaulichen Küstenort am Marmarameer. Nicht weit von Mudanya aber liegt die Insel Imrali, der bestbewachte Flecken der Türkei. Dort beginnt am Montag der Prozeß gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan. Der Hafen von Mudanya wurde daher zur Festung ausgebaut. Sperrgitter, elektronische Schleusen. Nicht einmal eine Büroklammer soll unentdeckt nach Imrali gelangen.
Vier Tage vor Prozeßbeginn wurde Mudanya von einem Bombenalarm aufgeschreckt. Jemand hatte eine Pappschachtel in einen Papierkorb gelegt und dann bei der Polizei angerufen. Als Sprengstoffexperten den Karton öffneten, fanden sie einen Wecker. Eine Warnung der PKK?
Zwei Wochen oder vielleicht auch drei Monate, vielleicht noch länger könnte der Prozeß dauern. Auch Dogan Erbas kann nur raten. In seinem Anwaltsbüro stapeln sich die Aktenordner. Rund zwanzigtausend , die Anklageschrift gegen Abdullah "Apo" Öcalan. Er wird für den Tod von 29 000 Menschen verantwortlich gemacht. Außerdem wird ihm Hochverrat zur Last gelegt. Seine Verteidiger haben die Ordner vor knapp zwei Wochen erhalten. "Vielleicht schaffen wir es gerade so, alles zu lesen", sagt Erbas. "Eine vernünftige Vorbereitung ist nicht möglich." Eine Woche vor Prozeßbeginn hat er seinen Mandanten zum letzten Mal gesehen. "Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Manchmal widersprach er sich in einem Satz", beschreibt er Öcalan. Der Gefangene leide unter Schlafstörungen. Das Leben in der Einzelzelle mache ihm zu schaffen.
"Außerdem", sagt Dogan Erbas, "weiß Apo nicht, was um ihn herum geschieht". Inzwischen dürfe er zwar Radio hören, nachdem er wochenlang von Informationen abgeschnitten gewesen sei. Aber mit dem Gerät könne er keine ausländischen Stationen empfangen. Lesen dürfe er abwechselnd die Massenblätter "Hürriyet" und "Sabah". Jeder Artikel über ihn oder die Kurden werde herausgeschnitten.
Die Anwälte mußten lange warten, ehe sie mit ihrem Klienten reden konnten. Im Februar, in den ersten zwei Wochen nach Öcalans Entführung aus Kenia, waren Besuche verboten. Seitdem dürfen sie ihn zweimal pro Woche sehen. Bis Anfang Mai saßen immer Aufseher im Zimmer und hörten mit. Auf internationale Proteste hin wurden die Wachen hinter eine Glasscheibe gesetzt. "Ob sie immer noch mithören, weiß ich nicht", sagt Erbas.
Es gilt als sicher, daß der Prozeß mit der Todesstrafe endet.
Seit 1984 wurde in der Türkei niemand mehr hingerichtet. Ein Todesurteil
für Öcalan muß vom Parlament bestätigt werden. Dort
hält die nationalistische MHP seit der Wahl im April fast ein Fünftel
der Sitze. "Apo muß hängen", lautete ein Slogan der Rechten.
Doch Wahlsprüche und Wirklichkeit seien zweierlei, meint Erbas. "Am
Ende entscheiden nicht die Parteien, am Ende entscheiden die Generäle.
Also warten wir ab. Viel mehr können wir nicht tun."