Beginn des Prozesses gegen Öcalan in der Türkei
Versöhnliche Worte des Angeklagten - Protest der Verteidigung
Der Prozess gegen den Kurdenführer Abdullah Öcalan hat am Montag unter strengsten Sicherheitsbedingungen begonnen. Beim ersten Auftritt seit seiner spektakulären Überführung in die Türkei legte Öcalan ein Reuebekenntnis ab. Zwei Verteidiger haben das Staatssicherheitsgericht als nicht zuständig bezeichnet und aus Protest ihr Mandat niedergelegt.
it. Mudanya, 31. Mai
Am Montag hat auf der im Marmarameer gelegenen Gefängnisinsel
Imrali der Prozess gegen den Kurdenführer Öcalan begonnen. Die
Hauptanklagepunkte lauten auf Hochverrat und Mord an Tausenden von Soldaten.
Die Stimmung im Gerichtssaal war, nach den Bildern des staatlichen Fernsehsenders
TRT zu schliessen, gedämpft. Im Saal zu sehen waren Familienangehörige
von gefallenen Soldaten. Sie trugen Porträts der Opfer bei sich und
hielten türkische Fahnen in den Händen. Verwandte Öcalans
sassen auf der rechten Seite des Saals. In einem kugelsicheren Glaskäfig
eingeschlossen befand sich der Angeklagte. In seinem ersten öffentlichen
Auftritt seit seiner spektakulären Überführung nach Imrali
Mitte Februar wirkte Öcalan leicht verwirrt und hilflos. In einer
kurzen Rede erklärte er dann aber mit kräftiger Stimme, dass
er nach seiner Festnahme beschlossen habe, dem Frieden und der Brüderlichkeit
zwischen den zwei Völkern (dem türkischen und dem kurdischen)
zu dienen.
Umstrittene Staatssicherheitsgerichte
Öcalan gab in seiner Rede weiter bekannt, dass er während seiner Untersuchungshaft weder gefoltert noch schlecht behandelt worden sei. Er beschuldigte Russland, Griechenland, Kenya und Italien, ihren Verpflichtungen gemäss internationalem Recht nicht nachgekommen zu sein und seine Festnahme mitverschuldet zu haben. Zuletzt sprach er den Familienangehörigen der gefallenen Soldaten sein Beileid aus. Der Tonfall sowie das Ausbleiben jeden Hinweises auf die Kurdenfrage liessen die Prozessbeobachter ratlos. War diese Rede in Wirklichkeit ein Appell zum Frieden zwischen Kurden und Türken oder ein Eingeständnis von Reue? Die Live-Übertragung aus dem Gerichtssaal wurde genau in dem Moment unterbrochen, als die Anwälte der Verteidigung das Wort ergreifen wollten. Der staatliche Fernsehsender TRT und die halbstaatliche Agentur Anatolia durften als einzige Medien direkt aus dem Gerichtssaal berichten. Am Nachmittag ergriff Öcalan erneut das Wort und äusserte sich in einer Art, die von im Saal anwesenden Gewährsleuten als Reuebekenntnis interpretiert wurde.
Der Verteidiger Ercan Kanar beantragte laut Angaben von Anatolia unmittelbar nach der Rede seines Mandanten am Vormittag die Vertagung des Prozesses. Er begründete seinen Antrag damit, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Kompetenz der türkischen Staatssicherheitsgerichte nicht anerkenne und daher das Verfahren nicht gültig sei. Der Vorsitzende des Gerichts, Turgut Okyay, ging auf den Antrag aber nicht ein und verordnete, die 139 Seiten umfassende Anklageschrift zu verlesen. Dies bot Kanar und einem weiteren Anwalt, Hasip Kaplan, den Anlass, ihr Mandat in Protest niederzulegen und den Gerichtssaal zu verlassen. Die beiden gelten als die kompetentesten Anwälte im Team von Öcalans Verteidigern. Bedeutet dies nun, dass der Kurdenführer in diesem Prozess des Jahrhunderts - wie das Verfahren in der Türkei oft genannt wird - am Ende ohne Verteidigung dastehen wird? Am Abend sickerte durch, dass die beiden Anwälte ihr Mandat eventuell wiederaufnehmen könnten.
Die Frage nach der Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte war letzte Woche ausgerechnet von der politischen Führung aufgegriffen worden. Präsident Demirel wie auch der neue Regierungschef Ecevit hatten in öffentlichen Auftritten erklärt, die Türkei müsste ihre Staatssicherheitsgerichte in einer Art verändern, dass niemand die Urteile der türkischen Justiz in Frage stellen könne. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte letztes Jahr erklärt, türkische Staatssicherheitsgerichte könnten nicht unabhängig sein, weil dem dreiköpfigen Gericht auch ein Militärrichter angehöre. Staatssicherheitsgerichte, die hierzulande für den Anklagepunkt Verbrechen gegen den Staat zuständig sind, haben zu Beginn der achtziger Jahre die Rolle der nach dem letzten Staatsstreich errichteten Militärgerichte übernommen. Ihre Tätigkeit bildete während der letzten Jahre im Kontakt zwischen Ankara und europäischen Regierungen einen ewigen Streitpunkt. Dass der Appell auf Vertagung am Montag trotz Demirels und Ecevits Aufruf ungehört blieb, dürfte als Hinweis auf eine härtere Haltung Ankaras in der Kurdenfrage gelten.
Enormes internationales Interesse
Härte jedenfalls wird von der Strasse gefordert. In der Imrali
gegenüberliegenden Hafen- und Touristenstadt Mudanya demonstrieren
seit Tagen fanatische Nationalisten und fordern den Tod des «Baby-Killers
Öcalan». Rund 3000 Polizisten haben strengste Sicherheitsvorkehrungen
getroffen, denn in Mudanya sind auch die meisten der Prozessbeobachter
stationiert. Laut offiziellen Angaben haben sich bisher 920 Journalisten
aus aller Welt für die Prozessberichterstattung im Pressezentrum in
Mudanya akkreditiert.