«Die Türkei entscheidet über Krieg oder Frieden»
Kurden und Politologen rechnen bei Todesurteil gegen Öcalan
mit neuer Welle der Gewalt
Von AP-Korrespondentin Harmonie Toros
Istanbul (AP)
Angespannt verfolgt der kurdische Ladeninhaber Emin eine Übertragung des Prozesses gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan. Die umliegenden Straßen sind wie leergefegt; wie Emin sitzen fast alle Bewohner vor ihren Fernsehgeräten. Mit dem in Kürze erwarteten Urteil gegen Öcalan wird die Türkei eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden treffen, sagt Emin, der aus Angst vor einer Verhaftung nur seinen Vornamen nennen will. Falls das Gericht ein Todesurteil gegen das PKK-Idol verhänge, stehe neues Blutvergießen bevor.
«Dann wird es noch mehr Krieg und noch mehr Tote geben», sagte Emin. Zunächst jedoch wollten alle Kurden die von Öcalan geforderte Waffenruhe einhalten, betonte er. Der Vorsitzende der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) hatte dem türkischen Staat beim Prozeßauftakt am Montag seine Zusammenarbeit für eine friedliche und demokratische Lösung des Konflikts mit den Kurden angeboten. «Wir haben ihnen unseren Willen zum Frieden bekundet», sagte Emin. «Jetzt liegt es bei ihnen, das anzunehmen.»
Auch neutrale Beobachter warnen vor einer neuen Welle der Gewalt im Falle eines Todesurteils. «Das würde ein System der Blutrache zwischen Türken und Kurden etablieren», sagte der Politikwissenschaftler Baskin Oran von der Universität in Ankara. Auch Öcalan wies vor Gericht darauf hin, daß seine Hinrichtung Vergeltungsschläge nach sich ziehen würde. «Was wird passieren, wenn ich sterbe? Die Organisation wird Tausende Kämpfer aussenden, und Hunderte Menschen werden sterben», sagte der PKK-Chef.
Urteil in wenigen Tagen erwartet
Der Aufruf zum Frieden hat die türkischen Medien Öcalan gegenüber jedoch nicht gnädiger gestimmt. Der PKK-Führer wird weiter regelmäßig als «Baby-Mörder» bezeichnet. Das Gericht auf der Insel Imrali wies einen Antrag der Verteidigung zurück, wonach Politiker bezeugen sollten, daß sich Öcalan bereits in der Vergangenheit für einen Waffenstillstand eingesetzt habe. Viele Türken halten die Erklärung des Rebellenführers für eine bloße Taktik, um einer Hinrichtung zu entgehen. Auch wird bezweifelt, ob Öcalan in der PKK noch genug Macht hat, eine Waffenruhe durchzusetzen.
Entsprechend gilt ein Todesurteil als so gut wie sicher. Die Behörden könnten sich keine Form von Nachlässigkeit gegenüber Öcalan leisten, nachdem sie ihn jahrelang als skrupellosen Mörder gebrandmarkt hätten, sagte ein Redakteur der Tageszeitung «Bakis», Ragip Zarakolu. «Die türkischen Behörden geben nicht zu, daß es einen Krieg in der Türkei gibt und sie akzeptieren nicht, daß es eine kurdische Seite existiert.»
Der Prozeß gegen Öcalan soll am Dienstag mit den Schlußplädoyers der Staatsanwaltschaft wieder aufgenommen werden. Nach einer mindestens fünftägigen Unterbrechung sollen die Plädoyers der Verteidigung folgen. Im Falle eines Todesurteils wird ein Berufungsgericht die endgültige Entscheidung treffen. Eine Hinrichtung Öcalans wäre die erste in der Türkei seit 1984. Den seit 15 Jahren anhaltenden Kämpfen zwischen der PKK und türkischen Streitkräften fielen mehr als 37.000 Menschen zum Opfer.