Und heute will niemand mit Apo geredet haben
Der Prozeß gegen PKK-Chef Öcalan nährt Spekulationen
um den Tod des einstigen türkischen Staatschefs Özal
Von Gerd Höhler (Athen)
"Herzversagen", lautete die Diagnose, als der türkische Staatschef Turgut Özal am 17. April 1993 in einer Klinik in Ankara starb. Die Familie des Toten glaubt bis heute, daß Özal einem Verbrechen zum Opfer fiel. Ihr Mann sei vergiftet worden, behauptete die Präsidentengattin Semra Özal. Jetzt sorgt der Prozeß gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan für neue Spekulationen um Özals Tod und die Rolle des Politikers im Kurdenkonflikt.
Am heutigen Mittwoch geht der Öcalan-Prozeß mit den Plädoyers der Verteidiger in die Schlußphase. Der Angeklagte selbst will ein Schlußwort halten. Öcalan werde mit neuen Enthüllungen aufwarten, wird gemunkelt. Schon was er bisher erzählte, könnte Anlaß geben, die Chronik des Kurdenkonflikts zu ergänzen. In neuem Licht erscheint vor allem die Rolle Özals. Er arbeitete offenbar beharrlicher als bisher bekannt auf eine Beilegung des Konflikts hin.
Öcalan droht als "Staatsfeind Nummer eins" die Todesstrafe. In früheren Jahren allerdings suchten manche mit dem damals noch im syrischen Exil residierenden Öcalan in Kontakt zu kommen, um die Möglichkeiten zu einer Beendigung des Kurdenkrieges zu sondieren. Der PKK-Chef enthüllte vor Gericht, die früheren Ministerpräsidenten Tansu Ciller und Mesut Yilmaz seien über verschiedene Mittelsmänner an ihn herangetreten. Auch der Generalstab habe einen Emissär geschickt, um herauszufinden, ob man miteinander ins Gespräch kommen könnte. Die Genannten dementierten jeden Kontakt zu Öcalan, am nachdrücklichsten das Militär: der PKK-Chef sei ein Terrorist und damit weder in der Vergangenheit ein Gesprächspartner gewesen noch könne er es in Zukunft sein.
Der Wahrheitsgehalt der Öcalan-Aussagen ist schwer zu überprüfen. Doch schon in der Vergangenheit zirkulierten Gerüchte über derartige Geheimkontakte. Völlig abwegig wären sie nicht, schließlich kostet der Kurdenkrieg die Türkei jedes Jahr rund acht Milliarden Dollar und belastet die Beziehungen zu Europa.
Wenn über solche Kontakte spekuliert wurde, fiel vor allem ein Name: Turgut Özal, von 1983 bis 1989 Regierungschef der Türkei und hernach Staatspräsident. Özal, der gelegentlich erwähnte, seine Großmutter sei kurdischer Abstammung, habe kurz vor seinem Tod Kontakt zu ihm gesucht, behauptet Öcalan. Als Mittelsmann habe der irakische Kurdenführer Dschalal Talabani fungiert, der ihm einen auf den 14. März 1993 datierten Brief Özals überbrachte. Talabani bestätigte die Existenz des Briefes im vergangenen Dezember. In dem Schreiben soll Özal angeboten haben, der Minderheit eine Anerkennung ihrer kulturellen Identität zu gewähren. Am 17. März 1993 will Öcalan darauf schriftlich geantwortet haben: Wenn Özal anerkenne, daß es neben kulturellen Freiheiten auch um Menschenrechte und demokratische Grundrechte gehe, könne "ein langer und blutiger Konflikt beendet werden".
Öcalans Darstellung klingt glaubwürdig und erklärt eine Reihe von Vorgängen Anfang der neunziger Jahre, die bisher nur in Bruchstücken bekannt sind. Mitte März 1991 teilte der damalige Staatschef Özal einer überraschten Öffentlichkeit mit, hochrangige Diplomaten und Agenten des Geheimdienstes MIT hätten auf seine Weisung Kontakte zu Talabani geknüpft - einem Mann, der bis dahin in der Türkei als Unperson galt.
Schon damals fragten sich Beobachter, ob die Kontaktaufnahme womöglich einen Kurswechsel in der türkischen Kurdenpolitik ankündige. Die Antwort auf diese Frage gab Özal sieben Monate später. Wenige Tage nach der Wahlniederlage seiner Mutterlandspartei erklärte der Präsident, der sich von nun an mit seinem alten Rivalen Süleyman Demirel als neuem Regierungschef zu arrangieren hatte, er wolle das Kurdenproblem lösen; dies, so Özal, werde "der letzte Dienst" sein, den er seinem Land erweise. Im überwiegend kurdisch besiedelten Südostanatolien, so Özal, gebe es "ein Problem", das "mit Gewalt nicht zu lösen" sei. Die Lösung liege vielmehr darin, "kulturelle Identität frei auszudrücken". Das klang damals und erst recht heute revolutionär.
Aber der neue Premier Demirel und vor allem die mächtigen Militärs widersetzten sich Özals Reformplänen. Im Februar 1993 richtete Özal einen erst mehrere Jahre nach seinem Tod bekanntgewordenen, beschwörenden Brief an Demirel. Die Kurdenfrage, so Özal, sei "das größte Problem in der Geschichte der türkischen Republik". Es gelte, "die Fehler der Vergangenheit offen einzugestehen und realistische Lösungen zu suchen". Ob Demirel, heute selbst Staatspräsident, diesen Brief jemals beantwortete, weiß man nicht. Etwa einen Monat später jedoch soll Özal dem PKK-Chef sein Verhandlungsangebot unterbreitet haben. Öcalan antwortete darauf mit seinem bisher unbekannten Brief vom 17. März 1993. Am gleichen Tag veranstaltete der PKK-Führer in der libanesischen Stadt Bar Elias eine Pressekonferenz. Öcalans Ankündigungen klangen sensationell: die PKK verzichte auf die Forderung nach einem eigenen Kurdenstaat, erkläre eine einseitige Waffenruhe und biete Verhandlungen über Selbstbestimmungsrechte der Kurden innerhalb der Grenzen des türkischen Staates an.
Ankara ließ das Verhandlungsangebot zwar offiziell unbeantwortet. Aber die Präsenz von Militär in den Südostprovinzen wurde spürbar zurückgenommen, es gab kaum mehr bewaffnete Zusammenstöße. Im April 1993 bestätigte Talabani die Kontakte zu Öcalan. Die Regierung bereitete unterdessen Gesetzesänderungen vor, die reuigen PKK-Kämpfern Straffreiheit versprachen - eine Idee, die Özal im Januar 1992 zur Diskussion gestellt hatte.
Doch im Militär und in nationalistischen Kreisen gab es ebenso
Widerstände gegen diese Annäherung wie beim radikalen Flügel
der PKK. Am 17. April 1993 starb Özal. Mit seinem Tod war auch das
Scheitern seiner Friedensinitiative vorgezeichnet. Am 24. Mai 1993 wurde
nahe der Stadt Bingöl ein Linienbus überfallen. Die Angreifer
töteten 35 Fahrgäste, unter ihnen 31 unbewaffnete Rekruten. Die
Militärs erklärten, bei den Tätern habe es sich um PKK-Rebellen
gehandelt. Öcalan aber sagte aus, er habe dieses Massaker niemals
befohlen. Es sei das Werk von "radikalen Kräften", die den Friedenskurs
torpedieren wollten. Wer auch immer jenen Überfall verübte, mit
ihm zerschlugen sich alle Hoffnungen. Der Waffenstillstand war beendet,
und die Regierung zog das bereits dem Parlament vorliegende Amnestie-Gesetz
zurück.