Berliner Zeitung, 30.6.99
Europäer warnen die Türkei vor Hinrichtung Öcalans
IMRALI/BONN/BRÜSSEL, 29. Juni. Zahlreiche europäische Staaten, die EU-Kommission und der Europarat haben am Dienstag die Türkei aufgefordert, auf die Hinrichtung des zum Tode verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan zu verzichten. In Bonn appellierten sowohl die Bundesregierung als auch die Oppositionsparteien eindringlich, das Urteil nicht zu vollstrekken. Die nach der Verhängung des Todesurteils gegen den PKK-Chef befürchteten Kurdenkrawalle blieben bis zum Abend aus. Einige tausend Menschen demonstrierten friedlich in mehreren deutschen Städten gegen das Urteil. Der 50jährige Kurdenführer war am Morgen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali des Hochverrats und Separatismus" schuldig gesprochen und zum Tod durch Erhängen verurteilt worden. Den Antrag der Verteidigung auf Umwandlung der Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe lehnten die Richter ab. Öcalan nahm das Urteil mit unbewegter Miene auf. In seinem Schlußwort hatte er zuvor noch einmal den Vorwurf des Landesverrats zurückgewiesen. "Ich bemühe mich darum, historische Fehler zu korrigieren," sagte er. Erneut bekräftigte Öcalan, daß er sich für den Frieden einsetzen wolle. Während des Prozesses hatte er auch gedroht, es werde zu neuem Blutvergießen kommen, falls er gehängt werden sollte. Urteil noch nicht rechtskräftig Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) appellierte an die Türkei, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken. "Menschen dürfen sich nicht zum Richter über Leben und Tod anderer Menschen erheben", sagte sie. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers, rief die Bundesregierung dazu auf, alles zu tun, um die Vollstreckung zu verhindern. Innenminister Otto Schily (SPD) appellierte an alle Kurden, Ruhe zu bewahren und sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Die türkische Staatsführung ging auf die Forderungen der europäischen Staaten nicht ein. "Ich wünsche unserer Nation, daß sich das auf Imrali gefällte Gerichtsurteil als segensreich erweist", sagte Ministerpräsident Bülent Ecevit, der als einer der wenigen Gegner der Todesstrafe im türkischen Parlament gilt. Staatspräsident Süleyman Demirel, ein Verfechter der Todesstrafe, sagte lediglich: "Das Gericht hat seines Amtes gewaltet." Auf die Frage, wie es nach dem Urteil weitergehen werde, fügte Demirel hinzu: "Was die Justiz entscheidet, das wird geschehen." Das Todesurteil wird zunächst noch nicht rechtskräftig, sondern geht in die Revision vor dem Obersten Kassationsgericht der Türkei. Über die Vollstreckung der Todesstrafe müssen das türkische Parlament und der Staatspräsident entscheiden, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Der Führungsrat der PKK forderte die Kurden auf, ihre Proteste
auf "demokratische und politische" Formen zu beschränken. Die Nationale
Befreiungsfront Kurdistans (ERNK), der politische Arm der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), erklärte in Wien, mit dem Todesurteil habe Ankara
die kurdischen Aufrufe zu einer "friedlichen Beilegung des Krieges ignoriert".
Zugleich warnte die ERNK vor einer Zunahme der Gewalt in der Türkei
und vor neuen Konflikten im gesamten Nahen Osten. Protestkundgebungen von
Kurden gab es unter anderem in Berlin, Bonn, Hamburg, Bremen, Braunschweig
und Kiel, im Ausland in Straßburg, Marseille, London, Moskau und
Den Haag. (AFP, Reuters, dpa)
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